Alles, was im Swinging London Rang und Namen hatte, fand sich am Morgen des 11. Dezember 1968 nebst zahlreichen Fans im Intertel-Fernsehstudio gegenüber der Rizla-Zigarettenpapierfabrik in Wembley ein. Am Einlaß erhielt jeder Gast – darunter Mick Jaggers frühere Lehrerin Elsie Smith – einen farbenfrohen Poncho und einen Filzhut. John Lennon und Yoko Ono, Eric Clapton, Pete Townshend und Keith Moon, beide in Clownkostümen, gaben sich ebenso die Ehre wie die bösen Buben des Rock’n‘ Roll, die Rolling Stones. Denn immerhin war Jagger der geistige Vater dieses ultimativen Happening der surrealistischen Sechziger, das sich Rolling Stones Rock and Roll Circus nannte. Zirkusdirektor Jagger engagierte Michael Lindsay-Hogg, den Regisseur der legendären Musiksendung „Ready! Steady! Go!“ sowie des Beatles-Films „Let It Be“, um die 36stündige Extravaganza zu filmen. Auf dem Programm standen Feuerschlucker, Dompteure, richtige Clowns und eine Truppe übergewichtiger Trapezkünstler. The Who, Marianne Faithfull, Jethro Tull, Taj Mahal und die „Supergroup“ Dirty Mac, in der Lennon, Ono, Clapton und der Geiger Ivry Gitlis musizierten, traten in dem stilgerecht mit Sägemehl ausgestreuten Zelt auf. Die Stones selber spielten mit „Sympathy For the Devil“ und „Jumpin‘ Jack Flash“ von ihrem neuen Album „Beggars Banquet“ und Klassikern wie „Route 66“ zu einem fulminanten Finale auf – zugleich dem Abschied von Brian Jones, denn der Multiinstrumentalist flog wenig später aus der Band und starb am 3. Juli 1969 an einer Überdosis. Für den Rest der Gruppe begann eine Erfolgsgeschichte sondergleichen. Auf „Let It Bleed“ (1969), „Sticky Fingers“ (1971) und „Exile on Main Street“ (1972) profilierten sie sich zunehmend mit Eigenkompositionen aus der Werkstatt Jagger/Keith Richards, und abgesehen von den tragischen Zwischenfällen 1969 in Altamont – als Ordnungsdienst eingesetzte Hell’s Angels ermordeten einen Fan – stand ihr Stern eindeutig im Aszendenten. Seither wurde die Show mit jeder Tournee größer und spektakulärer: zirkusreifer sozusagen, als wollte Jagger sich seine Phantasien zum Alltag machen. Mittlerweile hat dieser Monstertroß geradezu mythische Dimensionen angenommen. Selbst als er während der musikalisch unergiebigen achtziger und neunziger Jahre zum nostalgischen Kasperletheater zu verkommen drohte, waren die Konzerte bei ins Astronomische steigenden Ticketpreisen ausverkauft. Für die „40 Licks“-Tournee 2002/2003 waren achtzig Lastwagen und über 300 Helfer nötig, um die Steine ins Rollen zu bringen und ihre Requisiten von einem Spielort zum nächsten zu befördern. Derweil zogen acht Jahre ins Land, ohne daß die Band eine Platte mit neuem Material aufnahm. Erstmals seit acht Jahren neue Stücke im Gepäck „A Bigger Bang“ (Virgin) ist das 22. Studioalbum der Stones, und ob es überhaupt zustande kommen würde, stand lange auf der Kippe. Schlagzeuger Charlie Watts litt an Kehlkopfkrebs, und Richards mokierte sich über die Erhebung des heute 62jährigen Jagger in den Ritterstand: „Ich will nicht mit einem auf die Bühne treten, der eine Scheiß-Adelskrone trägt. Das paßt doch nicht zu den Stones, oder?“ Inzwischen ist Watts zum Glück genesen und das dienstälteste Kreativ-Duo der Rockgeschichte immer noch nicht in die Brüche gegangen, auch wenn ihr Verhältnis „eisiger als der Polarkreis“ sein soll – alles wie eh und je also. Das neue Album ist das längste seit „Exile on Main Street“ – und das beste seit „Some Girls“ (1978). In den stärksten der 16 Stücke, dem Rhythm &Blues-Opener „Rough Justice“, dem Delta-Blues „Back of My Hand“ oder dem stimmungsvoll-introspektiven „Laugh I Nearly Died“ klingt ein Nachhall der „Rock and Roll Circus“-Ära durch. Bei der Country-Ballade „This Place Is Emp-ty“ kommt Richards‘ Stimme zur Geltung – der Einfluß seines einstigen Saufkumpanen Gram Parsons, der seinerzeit mit den Byrds „Sweetheart of the Rodeo“ aufnahm, ist unüberhörbar. Insgesamt ist den vier Veteranen der Manege eine überzeugende Platte gelungen – auch wenn der Bush-Basher „Sweet Neo-Con“ einmal mehr beweist, daß gut gemeint das Gegenteil von gut ist, und „She Saw Me Coming“ recht lustlos daherkommt. Zum ersten Mal seit langem hat die „Greatest Live Rock’n’Roll Band“ ihrem Publikum mehr zu bieten als nur Werbung für die neueste „Best of“-CD. Eröffnet wurde die „Bigger Bang“-Tournee am 21. August im Fenway Park, der Heimat der Boston Red Sox. Und da ein größerer Knall einen noch größeren Aufwand erfordert, war das teuerste Set aller Zeiten dreißig Meter hoch, 95 Meter breit und dreihunderttausend Tonnen schwer. Auf riesigen Leinwänden führte ein Zeichentrickfilm den ersten großen, den Ur-Knall vor, während Flammen und Feuerwerksraketen gen Himmel schlugen. Mitten im Konzert geriet ein Teil der Bühne ins Wanken und riß riesige Löcher in die Rasenfläche des Baseballstadions. Nach Gastspielen in Nord- und Südamerika und Asien zieht der bombastischste Wanderzirkus der Welt im Frühjahr 2006 nach Europa weiter. Sein bescheidener Vorgänger, der vor 37 Jahren in London gastierte, ist seit letztem Herbst endlich auf DVD erhältlich. Foto: Rolling Stones – Charlie Watts, Keith Richards, Mick Jagger, Ron Wood (v.l.n.r.): Veteranen der Manege