Im März 1804, vor genau 200 Jahren, hat Friedrich Schiller seinen „Wilhelm Tell“, sein wohl populärstes Stück in Weimar fertiggestellt. Schiller hat unter den deutschen Dichtern zweifellos den nachhaltigsten Eindruck auf das Bewußtsein der Deutschen gehabt. Er war der volkstümlichste Dichter in Deutschland und wurde zum Freiheitsdichter der deutschen Nation stilisiert. Freilich nötigt uns diese Feststellung gleich zu der Bemerkung, daß der Schillerkult im 19. und 20. Jahrhundert nur einen verzerrten Ausdruck dessen hinterlassen hat, was Schillers Rang und Größe als Dichter der Klassik ausmacht. Jener Mensch der Klassik, der sein Leben zur Kunst gestaltet, der in einem schweren Kampf gegen die Gebundenheit an die Zeit, gegen die widerstrebende Subjektivität seines Lebenswillens und im Erleiden eines schweren Schicksals seine Individualität zur reinen Menschheit läutert, der das zeitlose Menschentum in sich verwirklicht, damit zu Maß, Gleichmaß und Vollendung, zu Größe und Würde findet und das ideale, geistige Menschsein repräsentiert, steht über den äußeren Verhältnissen, die durch Politik, Sozietät und Nationalität bestimmt sind. Als harmonische und in sich geschlossene, festgegründete Persönlichkeit lebt er der Geschichte enthoben, einer Geschichte, die immer nur ein schwankender Boden ist und ewig nur auf die Flüchtigkeit des Daseins angelegt ist. Es zeigt die Schwäche der bürgerlichen Gesellschaft, wenn man in Schiller nur den Vorkämpfer des Nationalismus sehen konnte, und es zeigt den ideologischen Eifer seiner Rezipienten an Theatern der DDR, wenn man ihn dort nur als einen Streiter für eine bessere Gesellschaftsform verstand. Andererseits läßt sich mit Fug und Recht fragen, warum gerade Schiller über Generationen hinweg als großer Nationaldichter gefeiert wurde, obgleich sein Werk nur zum geringsten Teil von seinen Verehrern verstanden wurde? Die bündige Antwort darauf könnte sein: Schiller, der große Pathetiker und leidenschaftliche Idealist, durch dessen Werke sich die Idee der Freiheit und der Wille zur Größe zieht, hat begeistert, weil er mit seinen Dramen erregende Gemälde der mit dem Schicksal kämpfenden Menschen malt. Schiller, der der deutschen Dichtung das erste bedeutende historische Drama („Wallenstein“) schrieb, hat auch durch den feierlichen Glanz des historischen Kolorits mit schnell wechselnden, spannungsreichen Bildern und großen Szenen die Bühne handlungsreich belebt und dadurch höchst anschaulich gewirkt. Und Schiller hat schließlich dadurch, daß er das nationale Befreiungsdrama schuf („Die Jungfrau von Orléans“, „Wilhelm Tell“), die Imaginationen einer enthusiastischen Jugend im Zeitalter des Risorgimento außerordentlich beflügelt. So haben seine Botschaften inspiriert, wenngleich nicht immer in dem von ihm ursprünglich gemeinten Sinne. Schiller wurde den Tendenzen der Zeit überlassen, Sehnsüchte und Wunschvorstellungen auf sein Werk projiziert. Ethische Selbstbewahrung und existentielle Freiheit Mit der „Jungfrau von Orléans“ richtete Schiller den Blick des Zuschauers auf die heroische Märtyrerin der religiös motivierten nationalen Idee, und er rührt dessen Empfinden, indem er ihn mit dem tragischen Schicksal einer großen Seele konfrontiert. Das Große, Erhabene, Heldenhafte, das im Kampf gegen ein feindliches Schicksal um der Idee willen alle menschlichen Regungen überwindet, zeigt, daß vom Menschen auch Übermenschliches gefordert werden kann, daß Geschichte daher nie nur geschichtlich-kausal gesehen werden darf, sondern daß der erwählte Heros auch metaphysischen Gesetzen gehorcht. Wilhelm Stapel schrieb denn auch: „Der metaphysische Auftrag der Jungfrau ist die Freiheit des Vaterlandes.“ Auch der „Wilhelm Tell“ wurde als ein Drama des nationalen Befreiungskampfes gedeutet. Fritz Martini sah im „Tell“ ein „Volksdrama, in dem es um Würde und Freiheit einer unterdrückten Nation geht“. Aber es geht auch um die ethische Selbstbewahrung und existentielle Freiheit des Einzelnen. Das Human-Autonome und das Geschichtlich-Politische gehen zusammen. Fritz Martini: „Es läßt sich nicht erraten, zu welchen Wandlungen Schiller das Erlebnis der politisch-nationalen Bewegung der Napoleonischen Kriege geführt hätte, deren Ethos er in der ‚Jungfrau von Orléans‘ und im ‚Wilhelm Tell‘ vorausgestaltet hatte. Zu ihm bekannte sich die enthusiastische Jugend, und sein Idealismus wurde (…) zu dem sittlichen Vorbild seiner Zeit. (…) Schiller nahm die Idee des Vaterlandes in den Kreis der erhabenen Ideen Wahrheit, Schönheit, Erhabenheit, Freiheit, Liebe, Unsterblichkeit auf; er band sie zugleich an eine religiöse Verpflichtung zurück, wie ihm auch, im Gegensatz zum ‚Wallenstein‘, in seinen letzten Dramen die Geschichte zum Vollzug einer göttlichen Weltordnung geworden war.“ Schiller hat die große politische Tragödie in Deutschland geschaffen; das nationalliberale Bürgertum hat ihn denn auch im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert als Streiter für die nationale und demokratische Freiheit gefeiert. Die freie Ordnung einer nationalen Gemeinschaft – wie sie im „Tell“ als Utopie entworfen wird – wurde als optimistische Zukunftsvision gesehen und als vorwärtsweisender Generalimpuls empfunden. Daß dabei der eigentliche Sinn der Schillerschen Tragödie, die Erhabenheit des Menschen zu zeigen, der selbst zum Absoluten seiner ethischen Freiheit findet, ging im nationalistischen Überschwang unter. Andererseits erwachten in Schiller starke patriotische Emotionen angesichts der äußeren Bedrohung durch den französischen Gegner. Ihm, dessen emphatisches Freiheitspathos Leben und Werk bestimmte, mußte in der krisenhaften Zeit bewußt werden, daß zu freiheitlichen Zuständen, die die Bewahrung und Steigerung der persönlichen Individualität erst möglich machen, auch die Freiheit der Nation gehört, in der der Mensch die Bedingungen seiner Existenz vorfindet. Das hohe Maß an Idealität, das Schiller in seiner Forderung nach einer „ästhetischen Erziehung“ bekundet, mußte sich in der Grenzsituation der nationalen Niederlage (1801), die auch als Extrem der persönlichen Entwürdigung empfunden wurde und weil die belastende politische Lage auch die ethische Position und das Gewissen polarisiert und auch haltgebende und sinnvermittelnde Antworten erheischt, in ein politisches Ethos des Patriotismus wandeln. Schiller beklagt den Absturz des Deutschen Reiches, der mit dem Frieden von Lunéville einsetzt, aber er entdeckt im Verhängnis die sittliche Größe der Deutschen, aus der sie ein profundes Weltbewußtsein und ihre Würde beziehen. So bleibt ihre sittliche Größe als eine erhabene Idee für die nationale Gestaltung und als Inpflichtnahme für eine künftige geistig-sittliche Remedur nicht nur der eigenen Nation, sondern der ganzen Menschheit. Schiller hat diesem Ethos in dem Entwurf zu dem Gedicht, das später mit „Deutsche Größe“ betitelt wurde, Ausdruck gegeben. In einer Zeit, „in der der Deutsche“ – so heißt es in dem Gedichtfragment „ruhmlos aus seinem tränenvollen Kriege geht, wo zwei übermütige Völker ihren Fuß auf seinen Nacken setzen und der Sieger sein Geschick bestimmt (…) darf er sein Haupt erheben und mit Selbstgefühl auftreten in der Völker Reihe?“ Er darf es, denn: „Ihm ist das Höchste bestimmt, die Menschheit, die allgemeine, in sich zu vollenden. (…) Er ist erwählt von dem Weltgeist (…) an dem ewigen Bau der Menschenbildung zu arbeiten, zu bewahren, was die Zeit bringt.“ Säkulare Vision und Metaphysik verbinden sich „Die Schätze von Jahrhunderten“ sind dem Deutschen aufgegeben und deshalb ist ihm die Aufgabe und die Sendung zugewiesen, die Menschheitsentwicklung zu vollenden. Das deutsche Volk als kulturell überlegenes Volk wird damit zum Träger eines Heilsgedankens. Indem Schiller den Einsatz für ein fernes humanstes Ziel fordert, vereinigt er die aufgeklärten Fortschrittserwartungen mit der traditionellen Geschichtseschatologie: „Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag der Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit.“ Und: „dem, der den Geist bildet, beherrscht, muß zuletzt die Herrschaft werden.“ Das entscheidende Merkmal ist, daß hier allein den Deutschen aufgetragen ist, ein universales, endzeitliches Projekt zu verwirklichen. Es ist aber, wie gerade der Rückblick auf die Risorgimento-Entwicklung der mittel- und osteuropäischen Völker zeigt, ein besonderes utopisches Spezifikum des neuen von Herder geprägten Nationalismus, ein Rollenbewußtsein zu entwickeln, das das eigene Volk turmhoch erhebt. Schillers Gedicht ist dafür typisch. Säkulare Vision und Metaphysik verbinden sich zu dem quasi-religiösen Zukunftsbild von der universalen Eintracht einer sittlich gebildeten Menschheit, das in die Wirklichkeit zu übersetzen, den Deutschen aufgetragen ist. So lesen wir: „Jedem Volk der Erde glänzt / einst sein Tag in der Geschichte, / Wo es strahlt im höchsten Lichte / Und mit hohem Ruhm sich kränzt. / Doch des Deutschen Tag wird scheinen, / Wenn die Scharen sich vereinen / In der Menschheit schönes Bild, / Wenn der Zeiten Kreis sich füllt.“ Schiller sagt ferner: Auch wenn das Reich ruhmlos zerfällt, so bewahrt sich der Deutsche doch seine reine, hohe, edle Gesinnung. „Abgesondert von dem Politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium untergegangen, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und im Charakter der Nation, die von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist.“ Und dieses „Reich“ – wie er sagt – der Würde, Sittlichkeit, Größe und Erhabenheit „blüht in Deutschland“. Solche Gedanken muten uns heute im Zeitalter der Massen und des Mas-seneudämonismus mit allen seinen Formen des Narzißmus sehr fremd an, aber dieser Verantwortung ins Gedächtnis rufende Gedanke vom inneren „Reich“ war bei der Konservativen Revolution der zwanziger Jahre fest eingeschlossen. Man wollte einen idealistischen Neuanfang machen und hoffte auf eine geistig-idealistische Strömung, die die ganze nationale Wirklichkeit erfassen würde: eine Remedur der Nation aus dem Kern ihrer geistig historischen Kräfte. Die Vorstellung von einer genuin deutschen Kultur im numinosen Innern diente einer nationalen Neuorientierung in einer Zeit des Verfalls. Niederlagen können, wie sich zeigt, zu einer nach innen gewendeten Besinnung führen, die dann auch die Bedingungen schafft für ein überlegenes Bewußtsein, das moralischen Schutz bietet und damit zur Stabilisierung einer Nation im Augenblick der Katastrophe. Wo eine Nation indes ganz abgeschnallt hat, die Niederlage masochistisch perpetuiiert und sich gequält einer „fremdstimmigen Zukunft“ (Arnold Gehlen) überläßt, da verlassen sie natürlich auch alle guten Geister. Die Gedanken, die Schiller in der „Deutschen Größe“ entwickelt, nimmt er im „Wilhelm Tell“wieder auf. Wenn er in der Eingangsstrophe zu dem Gedicht sagt: „Ewige Schmach dem deutschen Sohne, / Der die angeborne Krone / Seines Menschenadels schmäht, / Der sich beugt vor / Kniet vor einem fremden Götzen, der des Briten toten Schätzen / Huldigt und des Franken Glanz“ – dann finden wir hier schon das Verdikt über die politisch korrekte Unterwerfung vor den repressiven Strategien einer fremden Übermacht: gemeint ist der Hut Geßlers auf dem Marktplatz von Altdorf. Schiller führt im „Tell“ die Repräsentanten eines unverstellt lebenden Hirten- und Jägervolkes vor, das in seiner althergebrachten Freiheit bedroht ist. Das Bühnenbild weist symbolisch auf die Freiheit und die naturhaften Ordnungen, in denen dieses Volk lebt, und auf die Einheit des Geistigen mit dem Natürlichen hin. Wer ein gutartiges und edles, einfach und in der sittlichen Sicherung mit der Familie lebendes Volk mit Gewalt überzieht, greift eine natürliche und gottgewollte Ordnung an. Familie als Urform allen Zusammenlebens Was Schiller bisher für den einzelnen Menschen gefordert hat, wird nun für ein ganzes Volk eingeklagt: die ästhetische Selbstbewahrung und ein Leben in Freiheit und in Identität mit sich selbst. Für den Einzelnen ist dies nur in einem freien Gemeinwesen möglich. Die Landschaft mit hohem Felsufer, See, Wald und schroffen Gebirgsketten, Fischerhütten und dem Edelhof des ritterlichen Freiherrn kann indes auch ganz konkret als Heimat dieses Volkes verstanden werden, das hier nach seinen alten Rechten und Sitten lebt. Damit ist der symbolische Verweis gegeben auf die Bedingungen von Raum und Zeit, in denen jedes Volk seinem Geschick nach lebt. Tell handelt nicht aus politischen Prinzipien, aber weil Geßler auch die Familie, die Urform allen Zusammenlebens und eben auch der nationalen Gemeinschaft, mit despotischer Gewalt zerstören will, ist Tell zum Widerstand gezwungen. Die Verteidigung der Familie ist daher nicht nur ein privates Anliegen, sondern immer auch ein Kampf um die Grundlage jeder höheren Vergemeinschaftung. Die idealisierende Stimmung und das nationale Ethos im „Tell“ mußte den revolutionären Enthusiasmus der deutschen Jugend zur Zeit der Befreiungskriege für Schiller gewinnen lassen. Der „Tell“ war überhaupt Schillers wirkungsvollstes Stück und dies hauptsächlich wegen seines national-romantischen Inhalts, der in einer Fülle dramatisch wechselvoller Bilder Natur und Volk, Volk, Familie und Mensch in harmonischer Einheit zeigt. Daniel Nikolaus Chodowiecki, „Wilhelm Tell“ (Radierung, 1781): Jedes Volk lebt nach seinen Rechten und Sitten, nach seinem Geschick Friedrich Schiller: Geboren am 10. November 1759 in Marbach, Studium der Medizin, wird 1781 mit dem Stück „Die Räuber“ schlagartig berühmt. Freundschaft mit Goethe. Schiller stirbt am 9. Mai 1805.
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