Charkhi, ein Dorf im pakistanischen Punjab nahe der indischen Grenze, Ende der siebziger Jahre. Während der durch einen Militärputsch an die Macht gelangte General Zia ul-Haq über das ganze Land den Ausnahmezustand verhängt hat, um unter dem Druck einflußreicher moslemischer Führer einen Staat mit islamischer Rechtsordnung zu errichten, geht das Leben hier zunächst seinen gewohnten Gang. Ayesha (Kirron Kher), eine Witwe in den besten Jahren, gibt den jungen Mädchen Koranstunden, die Männer arbeiten auf den Feldern oder in ihren kleinen Geschäften, während die Frauen auf den Markt gehen und sich um die Kinder kümmern. Ayeshas ganzer Stolz ist ihr achtzehnjähriger Sohn Saleem (Aamir Malik), den sie verwöhnt und der in die hübsche Zubeida (Shilpa Shukla) verliebt ist. Doch die fortschreitende Islamisierung der pakistanischen Gesellschaft macht auch vor Charkhi nicht halt. Bei einer ausgelassenen Hochzeitsfeier tauchen zum ersten Mal bärtige Agitatoren auf, um die Einhaltung der islamischen Sittengesetze unter den Dorfbewohnern durchzusetzen. Saleem ist von der konsequenten Haltung dieser jungen Männer fasziniert. Nach einer religiösen Ausbildung schließt er sich ihnen an und opfert für seine neue Überzeugung sogar seine Liebe zu Zubeida, die der Veränderung ihres Freundes zum strenggläubigen Islamisten fassungslos zusehen muß. Die Ereignisse in Charkhi spitzen sich schließlich zu, als im Zuge einer vorübergehenden politischen Annäherung von Indien und Pakistan eine Gruppe indischer Sikh-Pilger das Dorf besucht, um an einem hier gelegenen Heiligtum zu beten. Denn einer der Pilger sucht in Charkhi seine Schwester, die 1947 bei der Teilung des indischen Subkontinents von Moslems verschleppt wurde. Seine Suche führt den Pilger schließlich direkt zum Haus von Saleem und Ayesha, in der er seine totgeglaubte Schwester wiedererkennt. Er ruft damit bei allen Beteiligten nicht nur sehr schmerzhafte Erinnerungen wach, auch der latent schwelende Konflikt zwischen Moslems und Sikhs droht nun erneut offen auszubrechen. Und Ayesha sieht endlich keinen anderen Ausweg mehr als jenen, den die vielen verschleppten und vergewaltigten Frauen und Mädchen damals gehen mußten, um die Ehre der Familie und der Gemeinschaft nicht zu beschmutzen … „Silent Waters“, im Frühling 2002 in Pakistan gedreht und auf dem Internationalen Filmfest in Locarno 2003 mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet, breitet einen feingesponnenen Lebensteppich aus, der seine Spannung vor allem aus der evokativen Kraft der Bilder erhält. Die Regisseurin und Drehbuchautorin Sabiha Sumar bedient sich dabei durchaus auch pathetischer Wiederholungen und scharfzüngiger Dialoge und erzählt – fast nebenbei – vom Leben der Menschen in einem pakistanischen Dorf in der Punjab-Region, von ihren Gefühlen, ihren Freuden, Leiden und Tragödien. Der Islam in seiner echten Volksfrömmigkeit wie in seiner islamistischen Entstellung wird ebenso plastisch dargestellt wie das Lebensgefühl in den Familien und dem gesamten komplexen Sozialgefüge. Ruhig, auf eigentümlich sachliche Art Mitgefühl verratend, bewegt sich die Kamera über ein Panorama menschlicher Schicksale, die tief in die Geschichte des Subkontinents hineinreichen, dessen Teilung 1947 zu den beiden unabhängigen Staaten Indien und Pakistan führte. Im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen Sikhs, Hindus und Moslems, die lange relativ friedlich miteinander gelebt hatten, kam es zu dieser Zeit vor allem in den Grenzregionen zur Verschleppung und Vergewaltigung von Frauen der jeweils anderen Glaubensgemeinschaft. Um diesem Schicksal zu entgehen, wurden zahlreiche junge Frauen von ihren Vätern und Brüdern in den Selbstmord getrieben – in Charkhi ertränkten sich viele im Brunnen des Dorfes. Manchen von ihnen gelang es jedoch zu fliehen, und einige von ihnen heirateten sogar ihre Entführer, nahmen moslemische Namen an und versuchten zu vergessen und sich ein neues Leben aufzubauen. Am Beispiel Ayeshas erzählt „Silent Waters“ vom Schicksal dieser Frauen, und erschütternder und niederschmetternder, als dieser Film es tut, kann über die Asozialität einer Gesellschaft kaum Zeugnis abgelegt werden. Sabiha Sumars erster abendfüllender Spielfilm beschreibt den Lebensweg Ayeshas mit einem bewundernswert verfeinerten Gefühl für aussagekräftige Details. Wenn aus dem sympathischen, verliebten Saleem, der eben noch mit der jungen Zubeida ungestüm flirtete, nach und nach ein bärtiger Islamist wird, verliert sein Gesicht alles Offene, Jugendliche, ja jegliche Gefühlsregung und ist schließlich gezeichnet von der Unbedingtheit des gnadenlosen Fanatikers. Gerade diese Einstellungen umschließen zahlreiche Bilder stillen Entsetzens, doch Sumar zeigt sie gleichzeitig realistisch-dokumentarisch und allegorisch für eine auf dem Aussaugen des einzelnen Menschen basierende Ordnung. Ihr Blick auf sie vermittelt jedoch die Einsicht, daß der blinde Haß des fanatischen Islamismus kein sektoraler Mißstand, sondern als Symptom für eine kranke und korrupte Gesellschaft zu erkennen ist. Hier bietet sich der Vergleich mit dem italienischen Neorealismus der Nachkriegszeit an. Doch die Geschichte aus einem Dorf, in dem die Moderne noch keine tiefen Spuren hinterlassen und die Mentalität der Menschen noch nicht grundlegend geändert hat, besticht nicht so sehr durch die geschickte Vermittlung einer aufklärerischen Botschaft, als vielmehr durch die Meisterschaft, mit der das verhalten anhebende Porträt einer Familie und eines ganzen Dorfes sich zum großen Epos ausweitet. Bis zum überwältigenden Finale, in dem Saleem der aus religiöser Überzeugung verschmähten Zubeida das Amulett seiner toten Mutter überreicht, wird der Zuschauer Zeuge einer Kultur der Natürlichkeit, deren Menschen durch die Spontaneität im Ausdruck ihrer Gefühle und Gedanken faszinieren. Weit entfernt vom Mittelstands-Selbstmitleid in den bürgerlichen Melodramen des europäischen Kinos konfrontiert uns Sumar mit einem Ausdrucksrepertoire, das in den westlichen Industriekulturen schon weitgehend verlorenging. Eine brillante Fotografie (Ralph Netzer), die alle Stimmungsnuancen einfängt, eine Inszenierung, die scharf und direkt ist und mit ungewöhnlichen Bildern arbeitet, ein Buch, das bewußt die mündliche Überlieferung indisch-pakistanischer Mythen nachahmt, und vor allem das ergreifende Spiel von Kirron Kher in der Rolle der Aeysha, die in Locarno als Beste Darstellerin mit dem Bronzenen Leoparden ausgezeichnet wurde, machen „Silent Waters“ zu einem bewegenden Zeugnis für die beharrliche Suche nach einer neuen Menschlichkeit, die – wider des Menschen Sehnsucht – letztlich keine tiefen Wurzeln treiben kann. Wenn Zubeida in der letzten Szene durch die Geschäftsstraßen von Rawalpindi geht, dann pulsiert hier wieder das Leben, als sei nichts geschehen. Aber ein Fernsehauftritt Saleems in seiner Funktion als Generalsekretär einer bedeutenden muslimischen Organisation bringt den Schmerz zurück. Die Narben sind noch nicht verheilt, und die Erinnerung an Ayesha wird dafür sorgen, daß dies lange so bleibt. Foto: Saleem (Aamir Mlik) beim Gebet: Die echte Volksfrömmigkeit wird ebenso plastisch dargestellt wie ihre islamistische Entstellung