Kurt Thomas war Kirchenmusiker, Pädagoge, Komponist und Chorleiter. Zwischen 1939 und 1945 leitete er in Frankfurt das Musische Gymnasium. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er von einer aus Sozialdemokraten, Kommunisten und bürgerlichen Nazi-Gegnern bestehenden Spruchkammer als „Mitläufer an der Grenze zum Entlasteten“ eingestuft. Konkret bedeutete dies, daß er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen und daß ihm niemand vorwarf, ein engagierter oder gar fanatischer Nationalsozialist gewesen zu sein. Das sehen heute, 59 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes und 31 Jahre nach dem Tod von Kurt Thomas, einige Leute, die sich post festum offenbar für besonders wagemutige und tollkühne „Widerstandskämpfer“ gegen den mausetoten Nationalsozialismus halten, anders. Rechtzeitig zum 100. Geburtstag von Kurt Thomas, der 1945 gemeinsam mit dem Organisten Helmut Walcha die Frankfurter Kantorei an der evangelischen Dreikönigskirche aufbaute und zwischen 1956 und 1960 Thomaskantor in Leipzig war, sollte an der Außenwand seiner Kirche eine Bronzetafel enthüllt werden. Ein „offener Brief“ des evangelischen Stadtpfarrers Hans-Christoph Stoodt, des Soziologen Micha Brumlik, der Pröbstin Helga Trösken und des Leiters der Jungen Kantorei des Barockorchesters Frankfurt, Joachim Carlos Martini, hat diese Ehrung nun vorerst verhindert. Die Unterzeichner werfen Thomas vor, daß er als Leiter des dem Reichserziehungsministerium unterstellten Musikgymnasiums nicht nur „eine zentrale Figur der NS-Kulturpolitik“ (Stoodt) war, die „die nationalsozialistischen Führungskader für zuverlässig hielten“ (Martini), er habe als „Nutznießer und Profiteur“ (Stoodt) des NS-Regimes gar einmal „eine der Aufführungen der Passionsmusik nach dem Evangelisten Matthäus von Johann Sebastian Bach in der Dreikönigskirche zu Frankfurt mit einer Hakenkreuzbinde um den Arm dirigiert“ (Martini). Zudem habe man nirgendwo davon gelesen, „daß er seine Funktion und seine Amtsführung als Leiter einer nationalsozialistischen Eliteschule, deren Schüler ‚Jungmann‘ genannt wurden und ihren schulischen und musikalischen Alltag in Uniform absolvieren mußten, je bedauert habe“ (Martini). Die Vorwürfe sind – so grotesk sie in den Ohren einigermaßen mit unserer jüngeren Geschichte vertrauten Zeitgenossen auch klingen mögen – keineswegs ironisch, sondern bitterernst gemeint und gipfeln schließlich in einem von Pfarrer Stoodt veröffentlichten Zitat aus einem Brief Thomas‘ an den damaligen Frankfurter Oberbürgermeister Friedrich Krebs: „Auf Anregung von Eltern haben wir in einem Rundschreiben die Einwilligung der Eltern erbeten, in Fällen schwerster ehrloser Handlungsweise eine gesunde Tracht Prügel verabreichen zu dürfen. Diese Genehmigung ist fast ausnahmslos erteilt worden, die Anwendung kommt jedoch äußerst selten vor.“ Im Grunde war das auch schon alles, was man Kurt Thomas vorwirft. Wäre die Angelegenheit nicht so symptomatisch für jenes hierzulande herrschende stickige Klima der politischen Korrektheit, könnte man über die Ignoranz und Anmaßung der Protestler mit einem Schulterzucken hinweggehen. Ihre Unfähigkeit, sich in die Zeit des NS-Regimes mit all ihren Verstrickungen, aber vor allem in eine höchst komplexe Persönlichkeit wie Thomas, mit vielen Brüchen und kontroversen Zügen, die oft großen Mut bewies und standhaft für verfolgte Freunde und Kollegen eintrat, hineinzuversetzen, spricht ja ausschließlich gegen sie. Doch nun soll eine „öffentliche Diskussion“ stattfinden, bei der es um „historische Aufklärung“ geht, so lautet jedenfalls das vorläufige Fazit von Pfarrer Phil Schmidt, dem Vorsitzenden des Kirchenvorstandes der Dreikönigsgemeinde. In diese „öffentliche Diskussion“ haben sich inzwischen auch zahlreiche ehemalige Schüler von Thomas eingeschaltet, und deren Urteil ist klar und eindeutig. Als „unglaublich, unredlich, selbstüberheblich und selbstherrlich“ empfindet Teuto Rocholl, der Ehrenvorsitzende der Kantorei, der unter anderem das Anbringen der Plakette angeregt hatte, den organisierten Protest gegen die Würdigung seines früheren Lehrers. Er kenne genügend Beispiele, daß Kurt Thomas sich schützend vor seine Schüler gestellt und sich dadurch selbst in Gefahr gebracht habe: „Wir waren dankbar, daß wir an der Schule waren.“ Der Musikwissenschaftler Peter Cahn, auch er ein Schüler von Thomas und zudem Sohn eines jüdischen Vaters, empfindet es als „ziemlich erschütternd, wie man da ein Bild verzerren kann.“ So fänden sich in der jüngst erschienenen Biographie des Historikers Werner Heldmann „Musisches Gymnasium Frankfurt am Main 1939-1945. Eine Schule im Spannungsfeld von pädagogischer Verantwortung, künstlerischer Freiheit und politischer Doktrin“ „seitenweise Belege“, daß Thomas sich kritisch zum NS-Regime geäußert habe und das Musikgymnasium keineswegs eine nationalpolitische Erziehungsanstalt war. Selbst Martini muß einräumen, daß Thomas kein Nationalsozialist war, nennt ihn jedoch einen „Opportunisten“. Dagegen spricht, daß Thomas schriftliche Meldungen von Schülern zur Waffen-SS nicht weiterleitete, einen regelmäßigen Religionsunterricht am Gymnasium durchsetzte, die Dienstpflicht in der HJ dagegen auf ein Minimum reduzierte, sich in seiner Zeit als Hochschulprofessor in Berlin schützend vor jüdische Künstler und aktive NS-Gegner stellt, in Frankfurt dann auch Schüler und Lehrer jüdischer Herkunft aufnahm und seine Schüler intensiv mit dem musikalischen Werk Mendelssohn-Bartholdys bekannt machte. Die Einflußnahme von Parteidienststellen habe Thomas „entschieden zurückgedrängt“ und so „das Vorhaben einer NS-Kaderschule für Musiker erfolgreich unterlaufen“, schreibt René Leudesdorff im Namen von 42 ehemaligen Schülern des musischen Gymnasiums. Kein einziger Nazi, „aber sehr viele bedeutende Musiker“ seien aus ihm hervorgegangen, argumentiert ein anderes Gründungsmitglied der Dreikönigskantorei. Und auch in Heldmanns Buch findet man etliche Zeugnisse von Schülern, die belegen, daß man sich am musischen Gymnasium offen regimekritisch äußern konnte, ohne Gefahr zu laufen, denunziert zu werden und im Zuchthaus zu landen. Gegen den Vorwurf des politischen Opportunismus spricht außerdem, daß Thomas sein 1956 vom Rat der Stadt Leipzig gegebenes Amt als Thomaskantor bereits nach vier Jahren aus religiös-weltanschaulichen Gründen aufgab: „Ich singe und musiziere mit dem Thomanerchor zur Ehre Gottes und nicht der DDR!“ Ganz abgesehen davon hätte aber die SED-Führung wohl auch keinem Ex-Nationalsozialisten ein solches Amt übertragen. All dies ficht die Unterzeichner des Aufrufs gegen Thomas freilich nicht an. Daß die gesamte Kirchenleitung der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau sich den Leuten um Stoodt und dessen dubiose „Anti-Nazi-Koordination“ angeschlossen hat, vermag indessen kaum zu verwundern. Auf diesen von allen guten Geistern verlassenen Gespensterzug sind nun auch noch die Frankfurter Grünen aufgesprungen. Sie dürfen offenbar nirgends fehlen, wo es um die undifferenzierte Anschwärzung bzw. Anbräunung von Menschen geht, die in schwerer Zeit Mut, Würde, Anstand und Menschlichkeit bewahrten und sich schützend vor die ihnen Anvertrauten stellten. Foto: Kurt Thomas (1904-1973): Würde und Anstand in schwerer Zeit