Mancher Deutsche, der in der DDR unter dem Meinungsregulierungs- und Meinungsüberwachungsregime litt, stellte sich das Land des Grundgesetzes als Paradies der Meinungsfreiheit vor, um nach der Wiedervereinigung zu erkennen, daß wenn es denn überhaupt ein Paradies ist, es nicht nur einen einzigen verbotenen Baum aufweist, sondern deren einen ganzen Wald.“ Der Kreis deutscher Staatsrechtslehrer, die den demokratischen Staat der Bundesrepublik, an dessen Verfassung sie ihr Amtseid bindet, hinter vorgehaltener Hand, „unter Kollegen“, mit dem diktatorischen SED-Regime auf eine Stufe stellen, dürfte recht überschaubar sein. Und einer, der so etwas sogar in Druck gibt, tut dies lieber erst nach der Emeritierung. Ein Blick auf den Kalender scheint im Falle Josef Isensees, Bonner Ordinarius für Öffentliches Recht, Jahrgang 1937, die Beachtung solcher Vorsichtsmaßregel zu bestätigen. Doch wer das Werk dieses Verfassungsrechtlers kennt, der nicht zufällig Ehrendoktor der Warschauer Akademie für Katholische Theologie ist, weiß, daß er schon häufig quer zur zeitgeistkonformen „herrschenden Meinung“ stand. In seinem schmalen Büchlein über die Reichweite des Tabus im freiheitlichen Staat kommt er freilich erst nach vorsichtiger Annäherung zur „Dialektik der Aufklärung“ und zu der noch ganz abstrakt gefaßten Frage nach den aufklärerischen Tabus, die ihrerseits inzwischen der Aufklärung bedürfen. Denn der emanzipatorischen sei die konstruktive Phase der Aufklärung gefolgt, die „Wallungswerte“ (Gottfried Benn) so nötig brauche wie jedes religiös fundierte Kultursystem und daher um die Einrichtung von „Reservaten des Irrationalen“ gar nicht herumkomme. Dazu zählt, was Isensee mit einem unvermutet kühnen Rückgriff auf ein paradigmatisches Zitat Jan Philipp Reemtsmas belegt, „Auschwitz, das strengste Tabu, das die Bundesrepublik Deutschland hütet“. Das neue Identität stiftende, bei Strafe sozialer Ausgrenzung zu achtende „zentrale NS-Tabu“ wie die leicht damit in Verbindung zu bringenden „Trabanten-Tabus“, von Asylrecht und Bevölkerungspolitik bis zu Euthanasie und Gentechnik, haben den demokratischen Diskurs heute in einen „Gesinnungsüberbietungswettbewerb“ verwandelt. Als Phänomen ist dies jedoch schon oft beschrieben worden. Zudem räumt Isensee die kulturelle Nützlichkeit solcher Meinungsschranken selbst ein und reklamiert für sein eigenes Anliegen, die „Rettung des Humanum“ vor dem Zugriff der Gentechniker, das Tabu des göttlichen Gebotes oder wenigstens die nicht minder irrationale „Achtung vor dem Zufallsprinzip“ – was den Leser etwas ratlos zurückläßt. Josef Isensee: Tabu im freiheitlichen Staat. Jenseits und diesseits der Rationalität des Rechts, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2003, 100 Seiten, 19,90 Euro.