Im heutigen Deutschland spielt Philosophie eine beschämend geringe öffentliche Rolle verglichen etwa mit dem 19. Jahrhundert, als die Namen Hegel, Schopenhauer und Nietzsche Sterne erster Ordnung am Himmel der geistigen Welt waren, oder auch mit der Weimarer Zeit mit so bedeutenden Philosophen wie Max Scheler, Edmund Husserl, Martin Heidegger und Karl Jaspers. Natürlich kann man heute auf Theodor Adornos und Max Horkheimers Frankfurter Schule verweisen, die seit der rot-grünen Regierungsübernahme vor sechs Jahren mit Jürgen Habermas (JF 26-04) als gefeiertem Staatsphilosophen zu so etwas wie einer offiziellen Staatsphilosophie geworden ist. Aber gerade sie zeigt, wie sehr Philosophie in unserem Land zu einer Art philosophical correctness wurde und die Frankfurter Schule zu einer ihrer wichtigsten Quellen. Andere philosophische Weltbetrachtungen und Richtungen führen bei uns oft nur ein Schattendasein. Sie sind zwar in Universitäten und Akademien lebendig und fruchtbar, in den öffentlichen Raum dringen sie aber nur schwer durch, und beim Personal der meinungsbildenden Kommandohöhen finden sie – trotz aller Feuilletons und TV-Kulturmagazine – meist geringe Resonanz. Nun zeigt der vorliegende Band, der aus Anlaß der Emeritierung von Manfred Riedel als Professor der Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle publiziert wurde, die Lebendigkeit und Fruchtbarkeit einer Philosophie, die sich als „Hermeneutik in praktischer Absicht“ versteht, als Gegenposition gegen politisch-messianische Totaldeutungen (wie es auch zumindest die frühe Frankfurter Schule war) wie gegen die positivistische und technizistische Weltbetrachtung unserer zunehmend globalisierten Welt. Manfred Riedel, 1938 in Sachsen geboren, hatte noch als Hörer von Ernst Bloch in Leipzig begonnen und studierte dann in Heidelberg bei Philosophen erster Ordnung wie Karl Löwith und Hans-Georg Gadamer. Als Ordinarius für Philosophie in Erlangen wurde er selbst ein fruchtbar wirkender Denker, der Philosophie als das Bemühen um das Wissen und die Einsichten versteht, die für eine sichere Lebensführung notwendig sind, sowohl im Leben des Einzelnen wie für das Ganze einer geschichtlichen Kultur. Ihm geht es also um die Vernunfteinsicht, die Phronesis, als Voraussetzung für ein „gutes Leben“, die Eudämonia der Alten, und er schöpft dabei aus dem reichen philosophischen Erbe Europas seit Sokrates und Aristoteles und bis hin zu Hegel, den Riedel aus seiner politisch-naturrechtlichen Tradition und aus seiner Kritik der industriellen und politischen Revolution rekonstruiert auf dem Weg zu einer politischen Ethik, die den tiefen Umbrüchen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts gewachsen ist. Riedel ist stets Zeitgenosse des deutschen Schicksals geblieben, zuerst der schmerzenden Teilung und dann der glückhaft wiedergewonnenen Einheit, die ihn in seine mitteldeutsche Heimat nach Halle zurückführte. Hier wurde ihm vor allem Nietzsche zur Passion. In seinem Buch „Nietzsche in Weimar. Ein deutsches Drama“ (1997, Taschenbuch 2000) hat er nach umfangreichen Archivrecherchen die ideologischen Verzerrungen des Philosophen vom Bismarck-Reich über den Nationalsozialismus bis zur DDR abgebaut. Schon 1990 hatte er für seine Forschungen den italienischen Nietzsche-Preis erhalten, wie überhaupt seine Wirkung im Ausland – von Italien und Spanien bis in die USA und Ungarn – stupend ist und in dem vorliegende Band durch die Beiträge seiner zahlreichen ausländischen Kollegen und Freunde belegt wird. Sein philosophisches Denken über vierzig Jahre hin war nicht zuletzt ein „Gang der Selbstverständigung“ des Autors, der zur Bestimmung des „Begriffs des Philosophen“ keinen anderen als eben Nietzsche zitiert: „…er ist beschaulich wie der bildende Künstler, mitempfindend wie der Religiöse, kausal wie der Mann der Wissenschaft: er sucht alle Töne der Welt in sich nachklingen zu lassen und diesen Gesamtklang aus sich heraus zu stellen in Begriffen“. Es ist an der Zeit, daß die Deutschen sich wieder solchen Philosophen zuwenden, die ihnen Grundeinsichten über eine sichere Lebensführung des Menschen als Person wie als Glied der Res Publica vermitteln. Harald Seubert (Hrsg.): Verstehen in Wort und Schrift. Europäische Denkgespräche für Manfred Riedel. Böhlau Verlag, Köln 2004, gebunden, 198 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro Prof. Dr. Klaus Hornung lehrte Politikwissenschaften an der Universität Hohenheim.