Das soeben erschienene, von der Münchner Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre (SdK) herausgegebene "Schwarzbuch Börse 2003" ist seine zehn Euro allemal wert. Es liest sich wie ein Krimi der wüstesten Sorte und schildert doch nur Ereignisse, die wirklich passiert sind. Die Haare stehen einem zu Berge. Nach der Lektüre möchte man spontan seine Bank anrufen und sie dringlichst auffordern, die paar Aktien, die man selber im Spiel hat, sofort herauszunehmen und irgendwie anderwärts zu plazieren. Lieber Sparstrumpf der ältesten Schule ohne Inflationsausgleich und mit einprogrammierter Wertminderung als diese Art von Börse!
Alle bekannten Fälle sind drin und dazu noch eine ganze Reihe anderer, von denen man zu allerletzt erwartet hätte, daß sie je zu Fällen werden würden: Parmalat und Müllermilch, ProSiebenSat1 und Pixelpark, Commerzbank und Deutsche Telekom, e.on, Sachsenmilch, Mannheimer Leben, Vogt electronic, W.E.T., WCM, Wella undundund. Die Moral von der Geschicht ist immer die gleiche: Den Reibach machen einige professionelle Großspekulanten, und die Rechnung bezahlt der sogenannte Kleinaktionär, der sich nicht um alles selber kümmern kann und sein Geld auf Treu und Glauben irgendwelchen Fondverwaltern anvertraut, die mit den Spekulanten oft unter einer Decke stecken.
Man staunt über die kriminelle Energie, die fast ungeniert zutage tritt, und fragt sich verwundert, wie es unter diesen Umständen überhaupt noch zu reeller Wertschöpfung kommen kann. Denn kein Großaktionär fragt mehr nach dem Gedeihen und der kontinuierlichen Effizienz von Unternehmen, deren Kupons er in der Tasche hat. Es geht einzig noch darum, den Marktwert dieser Kupons durch aktuelle Finanzmanöver, beispielsweise feindliche Übernahmen, bloße Übernahmegerüchte oder sonstige "stories", momentan künstlich in die Höhe zu treiben, um dann zum rechten Zeitpunkt, kurz bevor die Blase platzt, groß abzusahnen und die Kleinaktionäre das Desaster ausbaden zu lassen. "Fremdvermögen versenken" nennt das das "Schwarzbuch Börse 2003".
Im Gegensatz zu früher, wo dergleichen die große Ausnahme war und schneidend geahndet wurde, scheinen heute die Manager der ins Visier der Spekulation geratenden Unternehmen in der Regel auf der Seite der Spekulanten und feindlichen Übernehmer zu stehen. Es ist ja auch in den Augen der Manager "Fremdvermögen", das da versenkt wird, es gehört ihnen nicht, sondern sie "managen" es nur, und manchmal, wenn sich die Sache für sie selbst saftig lohnt, "managen" sie es eben in die Versenkung hinein.
Mit solch neuartigem Brauch korrespondiert die merkwürdige Beobachtung, daß vorrangig nicht mehr mickrige, an der Grenze zur Effizienz dümpelnde Unternehmen versenkt, zerschlagen und ihrer Identität beraubt werden, sondern gerade erfolgreiche und blühende, die leider nur das Pech haben, augenblicklich ein bißchen "unterfinanziert" zu sein. Ökonomischer Erfolg ist heute keine Garantie mehr für soziale Sicherheit und kulturelle Privilegierung, sondern im Gegenteil, sie macht besonders anfällig für Spekulation und Versenkung.
Ein "erfolgreicher" Manager ist nicht mehr derjenige, der "sein" Unternehmen zu prächtiger realer Wertschöpfung führt, sondern derjenige, der den Aktienwert "seines" Unternehmens, ganz unabhängig von dessen Leistungskraft, durch einige dubiose Manipulationen in gewaltige, aber kurzfristige Kurshöhen schiebt und es dann an feindliche Übernehmer verscherbelt, unter Mitnahme üppiger Provisionen für sich selbst und seine Klientel.
Schon vorher, bevor versenkt bzw. übernommen wird, hat er die "eigene" Firma kräftig ausgenommen. Mächtige Gewinnsteigerungen für diese werden etwa gemeldet – und bei Lichte betrachtet zeigt sich, daß aller Gewinn ausschließlich den Managern gutgeschrieben wird, den "Investmentbankern" innerhalb einer Bank zum Beispiel, für die sie zwar angeblich arbeiten, aber nur im Zeichen von raffiniert ausgeheckten Verträgen, die jeden Surplus exklusiv oder fast exklusiv auf die privaten Konten der Investmentbanker leiten.
"Beratung" heißt auch hier das Zauberwort. Die Manager beziehen als Leiter "ihres" Unternehmens, bei dem sie angestellt und für das zu arbeiten sie gehalten sind, ein Gehalt und bestimmte Gewinnbeteiligungen und Prämien usw. Gleichzeitig sind sie aber ihre eigenen Berater, Besitzer von Firmen, die genau solche Unternehmen beraten wie das, für das sie angestellt sind, und mit denen sich also lukrative Verträge aushandeln lassen. Die Manager beraten sich also selbst und beziehen dafür ein Honorar, das meistens noch beträchtlich über dem liegt, was sie als Leiter des beratenen Unternehmens beziehen. Das Nachsehen haben, außer den durch die "Beratung" freigesetzten gewöhnlichen Arbeitnehmern, die eigentlichen Besitzer, die Kleinaktionäre.
Rührend wirkt im "Schwarzbuch Börse 2003", mit welchem Eifer man bestrebt ist, die "eindeutig kriminellen Praktiken" der Versenkung von Fremdvermögen von den "legalen" Versenkungspraktiken abzuheben. Es wird energisch auf die gesetzlichen Möglichkeiten hingewiesen, die es gibt, um Insidergeschäfte, Bücherfälschungen, allzu lässiges Wirtschaftsprüfen usw. gerichtlich zu ahnden und abzustellen. Aber der Kampf der Börsenaufsicht und der Gerichte gegen "Mißstände" und "aufziehende Gewitterfronten" ist offenbar ein Wettlauf des Hasen mit dem Igel. Immer wenn eine Gesetzesänderung endlich einmal durchgesetzt ist, haben die cleveren Igel, die Durchstecher, längst ein neues Schlupfloch gefunden.
"Die Revolution der Manager", hieß ein Buch von James Burnham aus dem Jahre 1948. Dort wurde das meiste von dem vorausgesagt, was heute das "Schwarzbuch Börse 2003" beklagt. Die Revolution der Manager ist voll gelungen, und wie alle allzu gut gelungenen Revolutionen stiftet sie nun nur noch Unheil. Écrasez l’infâme!