Ziemlich deprimiert war Pankraz nach der Lektüre des Interviews, das Edgar Morin, der Pariser Großintellektuelle wider Willen, vorige Woche dem Magazin Le Point gegeben hat. Soviel rabenschwarzer Pessimismus auf so wenigen Seiten! Und das aus dem Mund eines Herrn vom Jahrgang 1921, der die Hand immer ganz eng am Puls der Zeit gehabt hat, der sich nie Illusionen machte – und dennoch nie gänzlich verzweifelte, sich stets ein Türchen der Hoffnung offenhielt!
Jetzt nicht mehr die Spur von Hoffnung, nur noch kalte Verzweiflung. "Die Welt schreitet auf die Katastrophe zu", so der eindeutige Befund. Und daran sind nicht irgendwelche identifizierbaren bösen Mächte schuld, sondern die Katastrophe kommt gewissermaßen wertfrei daher. Sie ist die aktuelle Ausfaltung dessen, was längst passiert ist, vor über 350 Jahren schon, und was Morin in einer früheren Äußerung einmal auf die knappe Formel brachte: "Descartes siegte über Pascal".
Was war damit gemeint? Morin spielte auf die Geburt des wissenschaftlich-philosophischen Rationalismus an, die im späten sechzehnten und dann im ganzen siebzehnten Jahrhundert geschah, dem grand siècle, wie man diese Zeit auch triumphierend genannt hat. Es war zunächst eine rein europäische Affäre. Die Hauptgestalten dieses grand siècle hießen Francis Bacon und Galileo Galilei, Baruch Spinoza, Thomas Hobbes, Gottfried Wilhelm Leibniz, Isaac Newton und eben René Descartes. Und als Zukunft schaffende Großtaten dieser Heroen wurden und werden aufgeführt: wissenschaftliches Experiment, systematischer Zweifel, Reduktion von jederlei Qualität auf bloße Quantität, mathematisches Kalkül, Bibelkritik, Säkularisierung.
Mit Hilfe dieses Instrumentariums gelang etwas, was es bis dato nur in den Wunschträumen von Sozialutopikern gegeben hatte: Die Welt wurde entzaubert und damit verfügbar. Man konnte nun das Wirtschaftsgeschehen scharf kalkulieren, auch prognostizieren, und damit das "Sozialprodukt", die Summe der materiellen Güter, ins schier Unermeßliche steigern, Reichtum für einige und auch Wohlstand für viele erzeugend.
Ein gewaltiger, immer weitere Kreise erfassender run auf die Wundermittel der neuen, "reinen", strikt mathematisch kalkulierenden Vernunft setzte ein und mündete in das, was wir mittlerweile "Globalisierung" nennen. Eine ursprünglich genuin europäische Geistesrichtung wurde "planetarisiert" (Morin). Alle Welt sehnte sich nur noch nach Mathematik und Naturbeherrschung, und wer sich nicht sehnte, wer sogar Widerstand leisten wollte, dem wurden einfach die Türen eingetreten.
Dabei gab es sehr gute Gründe zum Widerstandleisten, wie bereits der Zeitgenosse der Rationalisten, der von Morin zitierte Blaise Pascal, bezeugte. Pascal, selber ein großer Mathematiker (ein viel größerer als Descartes), machte souverän Front gegen die Vergöttlichung des Reduktionismus durch die Descartes & Co., ihre rabiate (angebliche) Erklärung des Ganzen aus einem einzelnen Teil, bzw, "Teilchen", mit Hilfe einiger mathematischer Formeln. "Wer das Teil für das Ganze setzt, stiftet Unheil", konstatierte Pascal, und er sollte recht behalten.
Wie die meisten Machteroberungen, so war auch der Aufstieg des "reinen" Rationalismus ein aggressiver, schwere Verluste fordernder Prozeß. Vielen wurde unrecht getan, vieles durchaus Bewahrens- und Erinnerungswerte wurde der Vergessenheit anheimgegeben oder für die Nachwelt mit einem willkürlich herabsetzenden, schmähenden Zeichen versehen.
Im selben Takt okkupierten die zur Macht Drängenden und zur Macht Kommenden zahllose Projekte, Einsichten und Problemlösungen, die keineswegs auf ihrem eigenen Mist gewachsen waren, die sie lediglich vergröberten und verabsolutierten. Der Schmähung und der provokativ zur Schau getragenen Ignoranz nach vorne hinaus korrespondierte hinten ein heimliches Sichaneignen und Übernehmen, das zuzeiten die Dimension von geistigen Raubzügen erreichte, durchaus vergleichbar den politischen Raubzügen der nachfolgenden Kolonial- und "Schutz"-Mächte.
Heute nun stellt sich die Frage, ob sich all der Aufwand für die Europäer und für die Menschheit insgesamt überhaupt "gelohnt" hat. Das Medusenhaupt des sogenannten "Fortschritts", der grenzenlosen Ausweitung menschlicher Möglichkeiten im Namen funktioneller Rationalität, tritt zutage. Zahllose besorgte Kosten/Nutzen-Rechnungen werden aufgemacht, unerwartete und unerwünschte "Nebenfolgen" werden besprochen und abgewogen, es hat sich eine diffuse Bangigkeit ausgebreitet.
Für Edgar Morin seinerseits ist die Sache entschieden: Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Als "seismischen Punkt" dieser Katastrophe beschreibt er in Le Point den Nahen Osten, wo sich seiner Meinung nach zur Zeit sämtliche von den Descartes-Nachfahren direkt oder indirekt geschaffenen Widersprüche zu einem einzigen explosiven Konflikt-Klumpen zusammenballen: Konflikt der Weltanschauungen und Religionen untereinander, Konflikt zwischen Religion und Laizität, Konflikt zwischen Arm und Reich, Konflikt zwischen Kindermangel und Übervölkerung. "Es ist ein Krebsgeschwür, von dem sich die Metastasen in alle Richtungen ausbreiten."
Beim genauen Lesen gewinnt man den Eindruck, als male hier einer absichtlich und wider die eigene Hoffnung schwarz in schwarz, um unbedingt aufzurütteln. Das mag ehrenwert sein, ist aber wohl kaum eine aussichtsreiche Strategie. Morin ist ja auch gar kein Politstratege, sondern ein – profunder – Politikbeobachter. Solchen Koryphäen ziemt eigentlich kein Totalpessimismus. Ihr Geschäft ist es, die Dinge genau darzulegen und so den besseren Einfällen (hier also denen von Pascal) zunächst einmal sprachlich zur Dominanz zu verhelfen.