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Pankraz, das Buch I-Ging und die Freude am Trigramm

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Pankraz, das Buch I-Ging und die Freude am Trigramm

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Was ist das älteste, verbreitetste, beständigste Buch der Menschheit? So darf man im Zeichen der Frankfurter Buchmesse schon einmal fragen, zumal die Antwort viele überraschen wird. Nicht die Bibel ist dieses Buch und nicht der Koran, auch nicht irgendeine Sammlung babylonischer Tontafeln mit Keilschrift oder zusammengeklebter altägyptischer Papyrusblätter mit Hieroglyphen. Sondern die Chinesen machen das Rennen. "I-Ging" heißt das Buch, "Buch der Wandlungen", und es erschien zum ersten Mal in China vor gut fünftausend Jahren. Die Gelehrten sind sich darüber einig, daß das Werk unverändert durch die Zeiten getragen wurde und uns heute in seinem Kern noch genauso vor Augen steht wie am Tag seiner Erschaffung.

Dieser Kern be­steht nicht aus Schriftzeichen, sondern aus sogenannten Trigrammen. Was ist ein Tri­gramm? Nun, es ist nichts weiter als ein Satz von drei simplen, linearen, geraden Strichen und dazwischengeschalteten Pausen, Leerräumen, die untereinander angeordnet sind. Es gibt acht Grund-Trigramme im I-Ging, und die mitgelieferten Schriftzeichen (oder – vor Erfindung der Schrift – die mündlich weitergegebenen Erklärungen) belehren uns, daß sie jeweils zwei Seiten unseres Seins und Daseins abspiegeln, eine "Naturseite" und eine "Menschenseite". In je­dem Trigramm schießen ein Naturmoment und ein Menschenmoment zu­sammen, oder, mit Heidegger gesprochen: die Trigramme sind die Lichtungen des Seins, auf denen sich Mensch und Natur, erkennend, begegnen.

Die erste Lichtung, drei ununterbrochene Linien, ist das Tian. Es symbolisiert auf der Naturseite den Himmel, auf der Menschenseite die Seelenstärke, die Lebenskraft, die uns von Anfang an erfüllt. Nummer zwei, eine einmal unterbrochene Linie und darunter zwei ganze, heißt Tui, der See, die glatte Wasseroberfläche, bzw. auf der Menschenseite die Lust, die Freude an unserem Da- und Sosein. Nummer drei: Li, eine unterbrochene zwischen zwei geraden Linien, meint auf Naturseite "verzehrendes Feuer", auf Menschenseite Glanz, Hektik, aber auch Triumph. Wir glühen und glänzen, indem wir unsere Freude am Sein, unser Einverstandensein, quittieren, uns im Feuer verzehren und wiedereintauchen in den ewigen Zusammenhang des Seins.

Nummer vier: Tschan, der Donner, bzw. auf der Menschenseite die Energie. Tschan, die Energie, ist also etwas Anderes als Tian. Im Tian behaupten wir uns, sind mit uns identisch; im Tschan gehen wir aus uns heraus, werden tätig, werktätig, bauen etwas, stiften etwas. Wir machen uns bemerkbar, wir werden hörbar, wie in der Natur eben der Donner. Nummer fünf: Siuen, der Wind, menschlich die Durchdringung. Tschan, die Energie, bewirkt "nur" Aufbau, Gestaltschaffen, Hörbarkeit. Si­uen hingegen läßt uns ineinander und in die Dinge der Natur eindringen. Siuen ist die Chiffre der Liebe.

Nummer sechs: Kan, der Regen, auf der Men­schenseite die Gefahr. Der Regen durchdringt uns nicht, sondern er macht uns naß, er belästigt uns und bringt uns unter Umständen sogar Krankheit, wenn wir uns ihm ungeschützt aussetzen, er ist eine Gefahr. Aber er behauptet gerade dadurch seinen Platz im Sein, er macht uns bewußt, daß das Sein trotz aller Freude und trotz aller Veränderung und Durchdringung kein Zuckerlecken ist, daß auf seinem Grund Bedrohung liegt, nicht etwa der Tod (denn der kann uns, eingebettet in das I-Ging, wie wir sind, letztlich nichts anhaben), aber eine unerhörte Bosheit und Versuchung, ein Sog, aus dem Weltzusammenhang auszuscheren und uns gegen ihn zu stellen, der Feind an sich.

Nummer sieben: Kän, der Berg, menschlich der Stillstand, die andere Seite der Gefahr, die uns in unserem Tal eben umstellt wie ein Berg und uns nur allzu leicht in Angst und Schrecken versetzt, die uns lähmt und die doch auch zum Sein dazugehört wie nur irgend etwas. Und schließlich Nummer acht: Kwun, die Erde, auf Menschenseite die Willfährigkeit, ein überwiegend positiver Affekt, eine Gut­mütigkeit, der Unwille, Konflikte einzugehen oder auch nur aus­zuhalten, der soziale Sinn, der uns innewohnt, aber auch die Bequemlichkeit, die Faulheit, die Gleichgültigkeit. Auch sie ist ein großes Seinsprin­zip, wie wir alle wissen.

Das also sind die acht Grund-Trigramme des Buches I-Ging. Ihre simple Linearität macht, wenn man die Bedeutung der Linien erst einmal genannt bekommen hat, jede Übersetzung in andere Sprachen überflüssig; I-Ging ist das einzige Buch der Welt, das vorab von allen Völkern sofort gelesen werden kann. Es ist eindeutig und doch auch unendlich vielfältig. Es ist nicht nur ein großartiges naturphilosophisches und anthropologisches Aussagebuch, sondern im selben Takt auch ein zaube­risches, tolldreistes Wahrsagebuch.

Man kann die Trigramme wie Spielkarten immer neu mischen, in immer neue Konstellationen zueinander bringen und so zu immer neuen Ansichten vorstoßen. I-Ging ist ein Buch zum Lesen, aber auch zum Spielen und zum Selberbauen. Faktisch alles ist erlaubt, und das Wunderbare dabei ist: Man tut dem Buch der Wandlungen damit nie einen Zwang an.

Noch die zufälligste Mischung hält gewisse Weisheiten bereit, lohnt die Versprachlichung im engeren Sinne, bietet Gelegenheiten zu bedeutungsvoller – oder auch scherzhafter – Deutung, es wird nie lächerlich. Gibt es, fragt Pankraz seine Leser, irgendein anderes Buch in irgend­einer anderen Weltkultur, das Derartiges lei­stet, das Bibel und Spielzeug, Scherzgrund und Rechenmaschine in einem ist? Es gibt kein anderes.

So also steht es mit dem ältesten und doch auch modernsten Buch der Welt, einem Buch für Fachleute und für Laien gleichermaßen, einem Buch für strengste Nachdenker wie für gewagteste Spin­ner. Auf der Messe kann man es wieder einmal an vielen Ständen in vielen Versionen ausgestellt sehen.

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