Oft hockten sie vor den Thronen der Mächtigen, fingen Münzen, welche ihnen joviale Herren und Fürsten zuwarfen, damit sie „Geschichte“ schrieben, erfanden, verbogen und notierten: mittelalterliche Chronisten, die heutigen Historikern vorausgingen. Jacques Le Goff, Experte für das Mittelalter, folgt zweifelhaften Pilgerwegen, wenn er glaubt, „im Zeichen der aktuellen Lage Europas“ einen „Beitrag für den Aufbau eines gemeinsamen Europa leisten“ zu müssen. Sehr hellsichtig charakterisiert Le Goff die Denkweise des mittelalterlichen Menschen, der ein „besonders lebhaftes Imaginieren“ kultivierte, weil „die Grenze zwischen Wirklichkeit und Vorstellung immer fließend“ gewesen sei. Am Beginn abendländischer Geschichte stehe der Glaube an die „Durchlässigkeit zwischen dem Diesseits und dem Jenseits“. Verschwimmen Wirklichkeit und Idee etwa auch in Le Goffs Buch? Zwar meint der Historiker, Europas „potentielle Einheit“ feststellen zu können, doch betont er fast gleichzeitig die „fundamentale Vielfalt“ der europäischen Verhältnisse. Eigentlich überwindet Le Goff diesen Zwiespalt nie. Dennoch hat das Buch historisch interessierten Laien viel zu bieten. Le Goff untersucht die Zeit zwischen dem vierten und 15. Jahrhundert, als Europa „geboren““ wurde. Keinesfalls sei das Mittelalter schon um 1500 ins Grab gesunken; erst die französische Revolution habe die „feudalen“ Strukturen jener Epoche beseitigt. Vieles spricht allerdings dafür, daß uns mittelalterliche Bedingungen immer noch stark beeinflussen. Zwar gibt es keine Geburtsstände mehr, wohl aber eine sozial höchst ungleiche Gesellschaft, in der es eine schicksalhafte Rolle spielt, ob man „oben“ oder „unten“ geboren wird. Der Gegensatz von Universalismus und nationalem Partikularismus, Christentum, Parlamente und Rechts-staatlichkeit, unabhängige Städte, Hochschulen, Wissenschaft und Bildung, Handel und Wirtschaft, technischer Fortschritt, alles ist mittelalterlichen Ursprungs, auch in jedem europäischen Land vertreten, wie der Autor gut darlegt. Unermüdliches Streben nach innerweltlichem Heil, dies trenne Europa von stationären Kulturen wie Byzanz und dem Islam, dynamisierte das Abendland ganz enorm. Auch an dieser Stelle könnte man Le Goff kritisieren. Wie etliche andere Mediävisten betrachtet er das Mittelalter recht unkritisch. Zwar tadelt Le Goff die unsinnigen Kreuzzüge, aber hat die europäische Energie nur Palästina heimgesucht und verheert? Was soll man über die zahlreichen, oft dynastisch motivierten Kriege denken, die Europa plagten, oder wie ist der enorme Einfluß der Klerisei zu beurteilen, die fast kastenartige Zergliederung der Gesellschaft in Stände, die Verfolgung von Häretikern und Hexen? Uneingeschränkt großartig war das gewiß nicht. Und vor allem – worin liegen die Ursachen solcher Phänomene? Anders als Le Goff vermutet, entsproß der europäische Kolonialimperialismus direkt mittelalterlicher Denkungsart. Kolumbus wollte schließlich Gold entdecken, um einen neuen Kreuzzug zu finanzieren. Le Goff repräsentiert die struktur- und mentalitätsgeschichtlich orientierte „Annales“-Schule, mit allen damit verbundenen Vor- und Nachteilen. Der Leser erhält ein interessantes Panorama mittelalterlicher Lebenskreise geboten, muß sich jedoch damit abfinden, daß die politisch-staatliche Historie eher schemenhaft bleibt. Gründlich erläutert der Autor die Art und Weise, wie Ostmitteleuropa christianisiert wurde. Karl der Große, den viele als Stammvater der europäischen Einheit feiern, kommt relativ schlecht weg. Stört Le Goff die Tatsache, daß Karl keine dauerhafte europäische Einheit begründen konnte? Scheiterten letztlich nicht alle derartigen Versuche? Existiert in Europa seit jeher eine „Dialektik von Einheit (Christentum) und Vielfalt (nationes)“? Hans Burgkmair d. Ä., Holzschnitt 1519: Drei Helden des Christentums, Karl der Große, König Artus, Gottfried von Bouillon Quelle: Yorck Project Jacques Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter. Verlag C.H. Beck, München 2004, 342 Seiten, gebunden, 24,90 EuroEuro