Auf merkwürdige Weise sind die Geschicke Schleswig-Holsteins mit der kurzen Geschichte des deutschen Nationalstaats verknüpft. Im Revolutionsjahr 1848 geriet die „schleswig-holsteinische Frage“ zur Nagelprobe für die außenpolitische Handlungsfähigkeit der geeinten Nation, die bekanntlich nicht bestanden wurde. Vor hundertvierzig Jahren, im Februar 1864, begann mit dem preußisch-österreichischen Winterfeldzug gegen Dänemark die Abfolge der Einigungskriege, die am 18. Januar 1871 zur Gründung des deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles führte. Von Schleswig-Holstein aus empfing dieses Kaiserreich dann auch seinen Todesstoß, als die Kieler Matrosen im 1918 das Signal zur Novemberrevolution gaben. Und das wiederaufgestiegene Reich, das sich zuletzt das „Dritte“ nannte, endete im Mai 1945 mit seinen weltpolitischen Ambitionen in einer Marineschule bei Flensburg. Keine Frage: Dieses so auffallend einen Brennpunkt deutscher Geschichte bildende kleine Land zwischen den Meeren eignet sich ganz vorzüglich für eine Fallstudie zum Thema „Nationalismus“. Insoweit bewies die Berliner Historikerin Alexa Geisthövel also das richtige Gespür, als sie für ihre Dissertation über den deutschen Nationalismus das Exempel der schleswig-holsteinischen Entwicklung zwischen 1830 und 1851 wählte. Auf den ersten Blick scheint das auch eine forschungsstrategisch günstige Konzeption zu sein. Denn in der „großen“, von der ehrwürdigen Geschichtsgesellschaft herausgegebenen „Geschichte Schleswig-Holsteins“, die auch nach einigen Jahrzehnten landeskundlicher Anstrengungen noch als Torso daliegt, klafft gerade für die weichenstellende Vormärz-Zeit eine peinliche Lücke. Von den versprochenen fünf Lieferungen des siebenten Bandes („Schleswig-Holstein und die Auflösung des dänischen Gesamtstaates 1830-1864/67“) hat der Kieler Landeshistoriker Alexander Scharff bis zu seinem Tod nur zwei vorgelegt. Seitdem ließen seine Nachfolger zwanzig Jahre verstreichen, ohne das Werk zu vollenden. Dieses regionalhistorische Desiderat stellte für Geisthövel aber wohl nicht die primäre Herausforderung dar. Wichtiger dürfte ihr gewesen sein, daß dieser Abschnitt der Landesgeschichte gerade aus dem Horizont der Fragestellungen moderner Nationalismusforschung neu zu entdecken war. Sie beginnt darum mit dem Vokabular, das seit Benedict Andersons „Erfindung der Nation“ (siehe JF 7/04) zum unabdingbaren Wortschatz des Nationalismushistorikers zählt: die „kollektiver Identität“ sei zu untersuchen, die Voraussetzungen zu ergründen, unter denen „Menschen sich als Nation denken“ können, die „Entstehung kommunikativer Beziehungen“ müsse beschrieben werden, in denen sich „Nation“ als „gedachte Ordnung“, als „erdachte Gemeinschaft“ ausprägt, in denen „Nationalisten“ Nationen als „historisch stabile Subformationen der Menschheit“ kreieren. Da das Nationalgefühl offenbar primär dadurch entsteht, daß sich Menschen „durch Worte zusammensprechen und zusammenleben“, wie Geisthövel hier Ernst Moritz Arndt zitiert, muß für sie der „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas) seit 1830 von größter Bedeutung sein. Welche Kräfte bestimmen den „Diskurs“, welche Akteure, welche intellektuellen „Deutungsaktivisten“ geben welche Inhalte vor, teilen sich über welche Medien mit, formen wie die „Prozesse der Plausibilisierung“ jenes deutschen Nationalbewußtseins, das in Nordelbien relativ rasch – innerhalb einer Generation – an die Stelle einer Dänemark gegenüber loyalen Fixierung auf den „Gesamtstaat“ trat? Um es vorwegzunehmen: Wer die zweihundert Seiten liest, die auf die Formulierung solcher ehrgeizigen Fragestellungen folgen, findet keine befriedigende Antwort. Auf der Basis gründlicher Kenntnis zeitgenössischer Publizistik beschreibt Geisthövel Hauptthemen und Variationen in der öffentlichen Erörterung der schleswig-holsteinischen Frage, sowohl im Lande wie in der Öffentlichkeit südlich der Elbe, in der Presse wie in der Inszenierung auf Versammlungen und Festen. Dabei trägt sie fleißig viel neues Material zusammen, doch die Protagonisten wie Friedrich Christoph Dahlmann und Wilhelm Hartwig Beseler und die Strukturen, in denen die nationalen Inhalte vermittelt wurden, sind von Hermann Hagenah (dessen Fragment „Die Zeit des nationalen Kampfes“ von 1939/41 die Verfasserin unbeachtet läßt) über William Carrs „Study in national conflict“ (1963) bis zu Alexander Scharffs Torso (1975/80) doch häufig genug thematisiert worden, so daß Geisthövel mit ihren frisch angebohrten Quellen nur primär gut positivistisch den vorgegebenen Rahmen füllt und allein das regionalhistorische Panorama um viele Facetten bereichert. Was sie damit beantwortet, ist allein die Frage nach dem „Wie“ des Bewußtseinswandels, während das von ihr selbst eingangs für zentral erachtete Problem – „warum“ eine neue kollektive Identität zwischen 1830 und 1848 an „Plausibilität“ gewinnt – ungelöst bleibt. Warum geraten die „Gesamtstaatler“, die die deutschen Herzogtümer lieber unter dänischer Herrschaft lassen wollten, nach 1830 verstärkt in Argumentationsnot? Sind dafür, was Geisthövel nicht einmal in Erwägung zieht, vielleicht eher ökonomische Ursachen von Bedeutung? Schließlich ging es mit Dänemark seit dem Staatsbankrott von 1813 wirtschaftlich immer weiter bergab. Könnten nicht jene mentalen Umorientierungen, die dem kollektiven Identitätsaustausch vorausgehen, hier ihre materiellen Ursachen haben? Könnten nicht handfeste Nöte am ehesten emotionale Reaktionen auslösen, die man beim massenwirksamen Loyalitätswechsel auf jeden Fall in Rechnung stellen muß? Die Beachtung der Entwicklung nach 1815 hätte Geisthövel für diese Fragen sensibilisieren müssen. Denn damals schon trat die „Petitionsbewegung“ der schleswigschen Städte mit der Forderung nach einer gemeinsamen Verfassung hervor. Diese Bewegung war aber primär ökonomisch motiviert, da mit der Gefahr einer von Kopenhagen nach dem Wiener Kongreß betriebenen verfassungsmäßigen Trennung auch eine währungspolitische Spaltung der Herzogtümer verbunden gewesen wäre, die die Stellung Schleswigs als Brücke zum deutschen Markt gefährdet hätte. Der Gesamtstaatspatriotismus blieb von dieser frühen Spielart des „Schleswig-Holsteinismus“ daher unberührt. Was also mußte zwischen 1820 und 1840 geschehen, um einen tiefgreifenden Bewußtseinswandel innerhalb der winzigen Schicht dieser politisch Interessierten zu bewirken? Und warum fanden die neuen Ideen über die schmale soziale Schicht des städtischen Bürgertums hinaus dann nahezu „plötzlich“ Anklang? Vielleicht weil man die Überzeugung gewann, der Gesamtstaat sei mit der Lösung wirtschaftlicher Probleme, deren Auswirkungen immer mehr Bewohner zwischen Elbe und Königsau zu spüren bekamen, überfordert, so daß eine Hinwendung und Identifizierung mit der deutschen Nation geboten schien? Eine „Fallstudie“, die über die Entstehungsursachen des Nationalismus aufklären will, sollte hierauf antworten und sich nicht, wie Geisthövel dies tut, mit einer Phänomenologie nationalistischer Diskurse zufriedengeben, bei der dann im Resultat „kritisch“ zu beklagen ist, daß das Individuum dem aufsaugenden Kollektiv Nation zum Opfer gebracht werde. Bild: „Schleswig-Holstein meerumschlungen“ (1844): Gestern noch treue Untertanen des dänischen Königs, heute „deutscher Sitte“ hohe Wächter Alexa Geisthövel: Eigentümlichkeit und Macht. Deutscher Nationalismus 1830-1851. Der Fall Schleswig-Holstein. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2003, kartoniert, 256 Seiten, 40 Euro