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Der Fluß des Vergessens

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Der Schriftsteller Alexander Sowtschick ist ins Rentenalter und als Erzähler schon etwas aus der Mode gekommen, für einen Bucherfolg aber immer noch gut. Sein Haus auf dem platten norddeutschen Land ist mit Büchern vollgestopft, sein Hobby eine kleine Haustierfarm, die beiden Kinder können sich auf ein hübsches Erbe freuen. Die Ehe freilich ist in Routine erstarrt, und sein neuer Roman „Karneval über Lethe“ kommt nicht recht voran. Außerdem ist die Beleidigungsklage eines Kollegen anhängig, den er „Dünnbrettbohrer“ genannt hat. Später stellt sich heraus, daß der so Bezeichnete herzlich darüber gelacht hat und der juristische Streit bloß die fixe Idee ihrer Anwälte ist. Sowtschick führt eine etwas langweilige Durchschnittsexistenz. Die Einladung des deutsch-amerikanischen Kulturinstituts zu den „Deutschen Wochen“ in den USA kommt da gerade recht. Sowtschick weiß, daß den Autoren ein klarer kulturpolitischer Auftrag zugedacht ist, nämlich „das vielleicht zu glatte, glänzende Bild deutscher Kultur zu craquelieren, das Brüchige aufzuzeigen und die unglaublichen Schweinereien, die von Deutschland ausgegangen waren, anzuprangern“. Er gilt in Intellektuellenkreisen als „konservatives Schwein“, bei Lesungen in fortschrittlichen Universitäten wurden ihm die Autoreifen zerstochen, und Zeitungsredakteure verhalten sich reserviert, wenn er ihnen Artikel anbietet, weil er – wir schreiben den Sommer 1989 – gelegentlich von „unserem deutschen Vaterland“ und von der Wiedervereinigung redet. Diese Zurücksetzung durch den Kulturbetrieb hat er mit Gleichmut hingenommen, Spuren hat sie dennoch hinterlassen. Kurzum, er fühlt sich durch die späte Einladung geehrt. Ein wenig entspricht Sowtschick dem Alter ego von Walter Kempowski. Der bald 75jährige kann sich über mangelnden Zuspruch für seine – teilweise verfilmten – Bücher nicht beklagen, doch der Erfolg ist eher dem Publikum als der Kritik und den Literatur-Juroren zu verdanken. Seine Schreibweise gilt als traditionell, beinahe grummelnd wird eingestanden, daß sie sich mit genauer Milieukenntnis, Lebensweisheit und einem ungewöhnlich scharfen Blick für Charaktere verbindet. Ein anderer Grund für die Geringschätzung mag sein, daß Kempowski mit seinen Ansichten tatsächlich ein Unzeitgemäßer ist, also keiner, der diesen Status als Markenzeichen vor sich herträgt. „Karneval über Lethe“ ist, erstens, ein Buch über die Innereien des Kulturbetriebs. Hier werden Machtfragen entschieden, vergiftete Freundlichkeiten ausgetauscht und fällige Aufmerksamkeiten verweigert. Hier wird Ideologie produziert und bedient, praktische oder symbolische Zuteilungen gewährt oder wieder entzogen, was für den medialen und den Marktwert des Autors ausschlaggebend ist. Nein, das Leben eines deutschen Schriftstellers zwischen Stipendien, Lesetourneen und Stadtschreiberexistenz ist kein Zuckerschlecken, und manchmal fragt Sowtschick sich, ob er diese Zumutungen mit seiner Selbstachtung noch vereinbaren kann. Wenn man nicht gerade ein Großautor ist wie Günter Grass (der am Rande und unter anderem Namen ebenfalls kurz auftaucht), bleibt man bei Lesereisen auf die Tristesse versiffter Hotels verwiesen, muß man sich einem des- oder falschinteressierten Publikum anbiedern, falls sich überhaupt eines einfindet. Sowtschick bleibt das unerschütterliche Landei, das sich darüber wundert, daß man in den USA keine Reiseschecks von seiner Sassenholzer Raiffeisenbank akzeptiert. In einer zweifelhaften New Yorker Frittenbude nimmt er eine Extraportion Majonnaise zu sich, was prompt zu einer Lebensmittelvergiftung führt. Der herbeigerufene Arzt ist ein jüdischer Emigrant aus Heidelberg, der ihn erwartungsgemäß nach seiner Mitgliedschaft in der SS oder NSDAP fragt. Kempowskis Buch ist auch ein Gesellschaftsroman. Bekanntermaßen kann man aus der Entfernung das eigene Land klarer erkennen. Die aufgeklärt-kritischen Jünglinge der deutschen Schule in Washington tragen ihre Colabüchsen wie Schnapsflaschen in den Jackentaschen und wischen sich mit dem Handrücken den Mund ab: „Oh, diese Verruchtheit!“ Der aus Wuppertal stammende Lehrer distanziert sich vor den Schülern von seinem reaktionären Gast. Die ängstliche Verhuschtheit des Pädagogen erweckt bei Sowtschick nur noch Mitleid. Er mag sich nicht mehr streiten, die Gegenwart ist ihm fremd geworden. Sein Grollen beschränkt er auf den inneren Monolog: „Die Amerikaner hatten zwar Bombenteppiche über Barockkirchen abgeladen, dann aber Carepakete geschickt. Sie hatten sich Jahr um Jahr mit der Umerziehung des schuldig gewordenen deutschen Volkes abgemüht, um es in die Völkerfamilie zurückzuführen – nun würde zu demonstrieren sein, was aus dem Kindlein geworden ist.“ Seine Bitterkeit über den Wortbruch der Amerikaner, die ihn und seine Kameraden 1945 an die Russen ausgeliefert hatten, was ihnen eine mehrjährige Gefangenschaft in Sibirien einbrachte, behält er gleichfalls für sich. Kollegen tauchen auf: Siegfried Lenz zum Beispiel, und „Alexander Sowtschick“ läßt sich nebenbei als Hommage an Arno Schmidt deuten. Ingeborg Bachmann heißt Gisela Flüsser, und in Renate Fuchs, „deren beharrlicher, wenn auch nicht recht beweisbarer Gegenkurs zur SED-Regierung (…) immer wieder Erstaunen und Bewunderung“ erweckt, ist unschwer Christa Wolf zu erkennen. Sowtschicks direkter Konkurrent auf der Amerika-Tour ist der Lyriker Adolf Schätzing, dessen Verse wegen ihrer kristallinen Reinheit gerühmt werden. Er bildet das arithmetische Mittel aus Günter Kunert, Heiner Müller und Durs Grünbein. Obwohl Schätzing und Sowtschick – ihre Namen haben dieselben Initialen! – sich niemals persönlich treffen, kommen sie sich von Station zu Station näher. Denn beiden sitzt der Tod im Nacken. Sowtschick hat Probleme mit dem Kreislauf, und über Schätzing sind Krebsgerüchte im Umlauf. Es ist ein Buch über einen alternden Künstler, der, als in Berlin die Mauer fällt, in einer temporeichen Szenenfolge aus Erinnerungen, letzten Begegnungen und Reflexionen realisiert, daß die Reise durch die USA sein ganz persönlicher „Karneval über Lethe“ gewesen ist. Lethe ist der Fluß des Vergessens, aus dem die ins Totenreich eingetretenen Verstorbenen trinken, um ihr irdisches Leben endgültig hinter sich zu lassen … Nach der Lektüre dieses bitter-sarkastischen, dabei lebensprallen und abgeklärten Romans kann man sich absolut nicht vorstellen, daß er Kempowskis letzter Gruß an seine Leser gewesen sein soll.

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Marc Jongen, ESN Fraktion
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