So verletzend und entwürdigend der gesamte Vorfall der sogenannten Kießling-Wörner-Affäre im Jahr 1983/ 1984 für den betroffenen General Günter Kießling war, die Affäre hatte auch einschneidende Wirkungen auf die gesamte Bundeswehr. Innerhalb der Führungsstäbe, aber auch in der Truppe war man fassungslos, als das ganze Ausmaß des dilettantischen Krisenmanagements im Bundesverteidigungsministerium offenbar wurde. Wie würde sich die oberste Führung erst in einer wirklichen Krise verhalten? Einer der Biographen Kießlings, Ortwin Buchbender, bemängelt, „daß das mit dem Fall Kießling verbundene Versagen vor allem der militärischen Führung bisher nicht kritisch analysiert und aufgearbeitet worden ist“. Er meint damit auch das Verhalten der Spitzenmilitärs, die ihren Kameraden Kießling wie einen Aussätzigen fallen ließen. Daß sich seither nicht viel geändert hat, zeigt das Verhalten der Generalität im Fall Günzel, der vor wenigen Wochen die Öffentlichkeit beschäftigte. Bei seinem Amtsantritt im Herbst 1982 sah sich Manfred Wörner einem nahezu unüberschaubaren Bedarf an Korrekturmaßnahmen gegenüber, deren Ursachen aus der Konzeption beim Aufbau der Bundeswehr, vor allem aber aus den „Wehrreformen“ der sozial-liberalen Koalition ab 1969 herrührten. Im Hinblick auf die zweifellos vorzügliche technische Ausstattung der Armee schrieb der Spiegel noch 1985: „Dennoch ist die Bundeswehr nur bedingt einsatzbereit. Den Soldaten fehlen Wehrbereitschaft und Wehrwillen, ihre ‚Kampfmoral‘ ….. tendiert gegen Null.“ Als Hauptursachen des eingetretenen Zustandes und damit Kernpunkte einer nötigen „Reform der Reform“ lassen sich herausstellen: l Die völlig unangemessene Konzentration auf den Abschreckungsauftrag der Streitkräfte (Slogan: „Der Friede ist der Ernstfall“) mit entsprechenden Konsequenzen für das Berufsbild der Soldaten (sui-generis-Problematik). l Die Verzivilisierung der Armee mit der Übernahme ziviler Ausbildungs- und Führungsverfahren, der strikten Trennung von Dienst und Freizeit und die dadurch verursachte Beschädigung des Inneren Gefüges. l Das Traditionsverständnis und damit das gestörte Verhältnis der Bundeswehr zu vorangegangenen deutschen Armeen. Bundeskanzler Kohl entschloß sich – entgegen allen Rechtsvorstellungen und auch entgegen allen Erwartungen – Minister Wörner nicht zu entlassen.
Ein kluger Schachzug: Nachdem sich die öffentlichen Aufregungen gelegt hatten, verfügte er im Verteidigungsministerium über einen willfährigen Minister, der künftig allen heißen Eisen aus dem Wege ging und nur darauf bedacht war, die Zeit bis zum Erlangen des erstrebten Amtes als Nato-Generalsekretär unbeschadet zu überstehen. Dies wurde er im Jahre 1988. Die Enttäuschung über Wörner in der Führung und in der Truppe war um so größer, da er, Oberstleutnant der Reserve und Kampfpilot, als ein „Mann für die Soldaten“ geltend, entsprechende Erwartungen genährt hatte. So hatte er bei seiner Amtsübernahme versichert, den umstrittenen Traditionserlaß seines Vorgängers Hans Apel wieder aufzuheben. Apel hatte diesen Erlaß noch nach dem Scheitern der Regierung Schmidt am 20. September 1982 in Kraft gesetzt. Noch heute ist er gültig für die Traditionspflege in der Bundeswehr. Unter Minister Schmidt war eine große Zahl links gerichteter Wissenschaftler auf einträgliche Posten im Sozialwissenschaftlichen Institut, an der Führungsakademie und an den Universitäten der Bundeswehr gehievt worden, denen die Bundeswehr als Versuchsfeld für soziologische Experimente diente. Der angeschlagene Minister war weder in der Lage, deren Einfluß zurückzudrängen, noch personelle Konsequenzen zu ziehen. Nur halbherzig wehrte er sich gegen die publizistische Kampagne, die ihm die „Re-Ideologisierung“ überständiger, unzeitgemäßer oder restaurativer Vorstellungen über das Militär vorwarf. So blieben die Versuche verschiedener Gruppierungen um den Minister (im Obristenrang seien die Namen Hubatschek, Farwick, Stockfisch, Oetting genannt, auf der Generalsebene Persönlichkeiten wie die Generale v. Scheven, Lichel, Zimmer oder Kießling selbst), mehr konservative Vorstellungen in der Armee durchzusetzen, in ihrem Erfolg bescheiden. So wie die Regierung Kohl ihren Anspruch auf eine „geistige Wende“ insgesamt nicht einlöste, blieb auch die Korrektur von Fehlentwicklungen in den Streitkräften bereits in den Anfängen stecken. Wenn jemand in der Lage gewesen wäre, eine Umkehr zu schaffen, dann wäre dies aufgrund seines Werdegangs, vor allem aber wegen des Vertrauens, das ihm die Armee entgegenbrachte, Manfred Wörner gewesen. Durch die Kießling-Affäre wurde dieses Kapital verschleudert.