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Geist in Ruine

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Gedanken, Taten, Werke (…) sind brüchige Tempel in der Zeit. Unsterbliches wohnt freilich in ihrer Zelle, die kein Untergang zerstört. ‚Doch im Innern ists getan.'“ Diese Worte Ernst Jüngers zum Thema Autorschaft ordnet Barbara Figal ihrem Bild vom Fensterplatz in Jüngers Arbeitszimmer zu. Ihr Fotoband „Ernst Jünger in Wilflingen“ (2001) dokumentiert eine kleine Weltreise durch Jüngers Alterssitz nach dessen Tod. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen gleichen Meditationsbildern, verblüffen als Übersetzung von Jüngers Weltwahrnehmung und Sprachform ins Visuelle und tauchen ins Labyrinth seines Persönlichkeitskosmos hinab, Kostbarkeiten heraufholend: Muschelkörbe, alte Bücher, Gaben aus aller Welt, vieldeutige Splitter zu Facetten einer „großen Konfession“ fügend, Spiegelungen eines Weltweisen, der seinen Ort stiftend bewohnt hat. „Doch es bleibt ein Herantasten durch die sichtbare Ordnung der Dinge an ihre unsichtbare Harmonie, aus dem Stückwerk des Wissens an das, was nur geahnt werden kann.“ Die Bruchstücke und der Dinge Ordnung beschäftigen 2003 auch das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar. Das westdeutsche Pendant zu den klassischen Forschungsstätten Weimars bewahrt und erschließt als zentrales Quelleninstitut deutsche Literatur zwischen Aufklärung und Gegenwart. Der Reichtum von Bibliothek und Handschriftenabteilung mit ihren 1.100 Autorennachlässen gab seit 1956 den Impuls zu jährlichen Sonderausstellungen. Diese wurden zu Ereignissen literargeschichtlicher Gedächtnisproduktion über vier Jahrzehnte. So setzten etwa die großen Retrospektiven zum Expressionismus (1960), über das Tagebuchgenie Graf Kessler (1988) oder zur wichtigsten Literaturzeitschrift der NS-Periode, „Das Innere Reich“ (1983), Marksteine und beeinflußten die Forschung. In diesem Jahr verband man sich mit dem Österreichischen Literaturarchiv der Nationalbibliothek Wien für Ausstellung und Katalogwerk „Die Teile und das Ganze. Bausteine der literarischen Moderne in Österreich“. Die komplikationsreiche Spannung von Teil und Ganzem als existenzielles, logisches oder poetisches Phänomen prägt die literarische Moderne generell, in den Diskursformen: Aphorismus, Fragment, Tagebuch, oder zeigt sich im produktiven Scheitern ihrer Großprojekte als Torsi. Speziell bietet sie einen Schlüssel zur österreichischen Literatur im 20. Jahrhundert. Neben Gegenwartsautoren wie Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Thomas Bernhard problematisieren die Aussteller vor allem die modernen Klassiker Kakaniens: Hofmannsthal, Kraus, Kafka, Musil, Broch, Doderer. Das Land Maria Theresias war traditionell der Idee integraler Universalität verpflichtet, stand doch die fragile Vielvölkerordnung Mitteleuropas auf dem Spiel, deren Dynastie das alte Reich auf sich bezog und im „Habsburg-Mythos“ (Magris) die zentrifugalen Kräfte symbolisch überwölbte, bis diese 1919 zerstoben. Diese „österreichische Idee“ haben noch Autoren wie Stefan Zweig, Joseph Roth und Hugo von Hofmannsthal gefeiert, von letzterem wienerisch-barock gestaltet, ein Leuchten mit einfallenden Schatten. Radikalisiert wird das Motiv im sprachskeptischen „Chandos-Brief“ (1902): Dem Protagonisten zerfallen die Worte „im Munde wie modrige Pilze, (…) ein um sich fressender Rost. (…) Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.“ Die einzelnen Worte sind nur mehr „Wirbel, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt“. Der Sprache Brüchigkeit verweist auf eine „Dissoziation“ der Person, ja schließlich der Epoche überhaupt. In Hofmannsthals Romanfragment „Andreas“ (1907-27) lehnt der Autor sich dagegen auf, scheitert jedoch mit seinem Drang nach welthaltiger Ganzheit. Diese Fragen und Probleme quälten auch Robert Musil bei der Abfassung seines Romanmonuments „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930/33). „Das Wort wird souverän und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr.“ Diese Anarchie der Teile hatte schon Nietzsche als Dekadenz-Symptom kritisiert. Die Wiedergewinnung verlorener Totalität indes provozierte einen gewaltigen kompositorischen Aufwand, Reflexivität, eine Komplexitätssteigerung, die das eigentliche Werk zu lähmen drohte. Davon zeugen die 6.000 zum „Mann ohne Eigenschaften“ überlieferten Manuskriptseiten in 50 Mappen, die 1992 das Musil-Institut in Klagenfurt auf CD-Rom ediert hat. Ein Drittel davon sind „Aufbaustudien“, „Indices“, „Prodispositionen“, „Konterkonstruktionen“, also unzählige „Metatexte“ zur Konzeption und Perspektive des Schaffensvorgangs. Blieb sein Roman Fragment, so gelang dem Kollegen Heimito von Doderer noch die Fertigstellung seiner gewaltigen Werke „Strudelhofstiege“ (1951) und „Dämonen“ (1956), in Konstruktion nicht minder anspruchsvoll als Musil oder Hermann Broch, dessen „Schlafwandler“-Triologie (1930-32) in Marbach jetzt eine große Rolle spielt. Im dritten Teil des Romanwerks, „1918 – Hugenau oder die Sachlichkeit“, findet sich ein theoretischer Traktat über den „Zerfall der Werte“, in dem der Autor die Grundlagenkrise aus dem Schwund der mittelalterlichen Zentraleinheit und der Verselbständigung der Elemente deutet. Diese Desintegration erodiert die soziale und kulturelle Gemeinschaft, unterwirft die Betroffenen nicht nur religiös einer „transzendentalen Obdachlosigkeit“, sondern auch sozialer Anomie. Broch sieht es als seine Aufgabe, „Mythos“ und „Einheit“ wiederzugewinnen: „Er nimmt die Aufgabe des individuellen Künstlers ernst, nach dem Verlust übergreifender Sinnmuster mittels Dichtung subjektiv Sinnbildung zu ermöglichen.“ (Lützeler) Für Brochs Zeitgenossen erlaubt die moderne Welt keine Orientierung mehr. Eine solche müßte nach Mircea Eliade einen „festen“ Punkt absolut voraussetzen. Fehlt er, „gibt es eigentlich keine ‚Welt‘ mehr, sondern nur noch Fragmente eines zerbrochenen Universums, eine amorphe Menge unendlich vieler mehr oder weniger neutraler ‚Orte‘, an denen der Mensch sich (…) dahin und dorthin bewegt.“ Als unbedingter Fluchtpunkt, von dem aus die Welt plausible Ordnung war, galt traditionell Gott, absolute Idee und Seinsgrund, ein „universelles Letztaxiom“. Säkularisierung nun bedeutet Horizontalisierung. Was Wunder, wenn die moderne Massengesellschaft die Gottesidee aufhebt, indem sie sie verzeitlicht: Was bleibt, ist eine „kommunikative Struktur“ (Habermas), die als sozialer Prozeß „in eine abstrakte Unendlichkeit“ reicht, „die im Regreß ewigen Fragens gefangen ist“. Aus dieser „Zersplitterung“ Gottes resultieren Endlichkeit, Unabschließbarkeit, Vorläufigkeit heutiger Massendemokratie. Auf den Kulturbetrieb schlägt das durch als Inflation und Fragmentierung. Künstlerische Fragmente werden zu Paradigmen der ästhetischen Moderne. Das wird seit 200 Jahren reflektiert. Genauerem Blick zeigt sich ein umstürzender Wandel seitdem. Im Sinn der Tradition bleiben noch die Romantiker und Hegel der zyklischen Denkform verhaftet: Das Fragment als logische Kategorie und ästhetisches Modell verweist implizit aufs Ganze, evoziert die Einheit der Welt, beschreibt imaginär den Bogen zum Absoluten. Dieses Versöhnungsprinzip hält sich als „regulative Idee“ noch in den 1920er Jahren, wird erst von der Postmoderne gekippt. Mit deren Vertretern haben wir seither reichlich zu tun. Aktuell auch in Marbach, wo die Bewahrer 2003 den Zertrümmerern weichen mußten. Moderne Ästhetik, so der Katalog barsch und definitiv, „verabschiedet Kunst als Organon eines existenziellen oder metaphysischen Ganzen völlig“. Von „Fragmentarizität“ ist hier die Rede, einem tödlichen System fortlaufender Zersplitterung. Ein gewisser Endpunkt scheint bei Mayröcker erreicht, deren Autorschaft sich so charakterisiert: „Im Prozeß des Schreibens läßt das Ich Federn, es schält und zersplittert sich, vertilgt sich selbst und steht in grandiosen VEITSTANZMOMENTEN.“ Von hier aus enthüllen sich Wesen und Triebkraft moderner Kultur als destruktive Dynamik, ein Programm radikaler Negativität: die zeitliche Welt in ihrer Selbstbezüglichkeit. Womöglich ist die westliche Zivilisation doch nicht so offen, global und universell, wie sie vorgibt, sondern eine nihilistische Phantasie avantgardistischer Provinzler, deren Schatten andere Zeiten, Räume, Verheißungen verschlingt. Robert Musil, Zeichnung von Johann Brandstetter: Die Anarchie der Teile provozierte einen gewaltigen kompositorischen Aufwand Die Ausstellung ist bis zum 31. Oktober 2003 im Schiller-Nationalmuseum/Deutsches Literaturarchiv Marbach, Schillerhöhe 8-10, täglich 10 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr, zu sehen. Der Katalog (300 Seiten) kostet, 17,90 Euro. Info: 071 44 / 8 48-0, Internet: www.dla-marbach.de

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