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Dimensionen der Unkultur

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Durch Alexander Solschenizyn ist das Wort „Gulag“ weltweit ein Begriff geworden. Was dieser sowjetische Dissident unter persönlicher Gefährdung über das System der Zwangsarbeit in der UdSSR zusammengetragen und veröffentlicht hatte, schockierte die westliche Welt. Millionenfach verbreitet, mit dem Nobelpreis belohnt, konnte das mehrbändige Werk trotzdem nicht lange die Aufmerksamkeit fesseln. Unsere auf immer neue Sensationen ausgerichtete Zeit vergißt schnell. Jetzt läßt ein Buch der amerikanischen Journalistin Anne Applebaum, „Der Gulag“, wieder aufhorchen. Wo immer man es aufschlägt, liest man sich fest. Es ist nicht nur spannend und flüssig zu lesen, es bringt auch viel Neues. Während Solschenizyn auf das angewiesen war, was er selbst als Gulag-Häftling erlebt hatte und was ihm Überlebende anvertraut hatten, konnte Anne Applebaum Einblick in Archive nehmen, die zur Sowjetzeit keinem Ausländer zugänglich waren. Sie unternahm Reisen bis in die hintersten Winkel Sibiriens, interviewte Opfer, Hinterbliebene und Täter. Was sie an Fakten und Einsichten zusammengetragen hat, kann selbst denen den Atem verschlagen, die sich aus privatem oder beruflichem Interesse mit dem Thema beschäftigt haben. Dabei entsteht ein vielschichtiges Bild. Einerseits die systematische Verfolgung, Versklavung und Vernichtung von echten und angeblichen Gegnern des Regimes, andererseits Wellen von wahllosen Verhaftungen Unschuldiger. Hier Vorzugsbehandlung von „Politischen“, dort ihre Unterwerfung unter ein gnadenloses Terrorregime brutaler Krimineller. Es gab detaillierte Anweisungen, wie inhaftierte „Klassenfeinde“ zu behandeln seien, und seltsam unklare Richtlinien, die von den örtlichen Lagerleitungen willkürlich ausgelegt werden konnten. Die Bewacher konnten bestraft werden – wenn sie Gefangene allzu menschlich behandelten. Und Häftlinge wie der berüchtigte Naftalij Frenkel konnten selbst Lagerkommandanten werden. Applebaum hat es verstanden, System in die oft widersprüchlichen Informationen zu bringen. Wir erfahren: Es gab Arbeitslager, Straflager, Lager, in denen kriminelle und politische Häftlinge gemischt waren, Frauenlager, Kinderlager, Transitlager und schließlich (vor allem während des Krieges) vergleichsweise komfortable Lager, in denen Wissenschaftler, Ingenieure und „Spezialisten“ ihre Kenntnisse für den Sieg des Sozialismus einsetzen durften. (Erinnert sei hier an Solschenizyns „Der erste Kreis der Hölle“.) Die zählebige Legende, unter Lenin sei alles nicht so schlimm gewesen, erst Stalin habe das Terrorsystem geschaffen, wird von Applebaum klar widerlegt. Schon im Herbst 1918 verkündete Lenin den „Roten Terror“, und bereits vorher gab es vereinzelte Lager für „unzuverlässige Elemente“. Da es – insbesondere durch die überstürzte Industrialisierung und die Kollektivierung der Landwirtschaft – immer wieder wirtschaftliche Fehlschläge gab, mußten hierfür „Schuldige“ gefunden werden. „Schädlinge“, „Saboteure“, „Agenten ausländischer Mächte“, später „Abweichler“, „Trotzkisten“ und andere „Verschwörer“ wurden entweder erschossen oder ins Heer der Zwangsarbeiter eingereiht. Anschaulich beschreibt Applebaum, wie dabei die Menschen schon vor der Einlieferung ins Lager gequält, entmenscht, entwürdigt wurden. Es ist unmöglich, an dieser Stelle alle in dem Buch geschilderten Einzelheiten auch nur zu erwähnen, geschweige denn ausführlich zu erörtern. Wer sich aber daranmacht, den 734 Seiten starken Wälzer durchzulesen, wird am Ende mehr über das Sowjetsystem gelernt haben, als er aus vielen wissenschaftlichen Werken über das Thema erfahren kann. Bekannt ist die Methode, Häftlinge zu immer höherer Erfüllung der Arbeitsnormen anzutreiben, indem man die Menge der Verpflegung von ihrer Leistung abhängig machte. Applebaum weiß aber auch von den Tricks, mit denen solche Normen manipuliert oder unterlaufen werden konnten – eine Methode, die auch außerhalb der Lager praktiziert wurde. Sie berichtet von Kriminellengerichten, die im Lager Urteile fällten, die von Verstümmelung bis zur Todesstrafe reichten und gnadenlos vollstreckt wurden. Ausführlich berichtet sie von Kinderlagern, in denen obdach- und elternlose Kinder mit minderjährigen Gewaltverbrechern „verwahrt“ wurden. Es waren Kinder und Jugendliche, die sich selbst überlassen waren, weil die Väter an der Front waren und ihre Mütter 14 Stunden täglich in der Rüstungsindustrie schuften mußten, Kinder verhafteter „Politischer“, denen man beibrachte, ihre Eltern zu hassen, weil sie „Volksfeinde“ seien. Kinder, die im Lager geboren wurden, wurden geschunden, geschlagen, herumgestoßen, ältere Jungen und Mädchen zum Diebstahl, zur Prostitution gezwungen, ja sogar zum Mord. Aber im Archiv des Gulag finden sich hymnische Lobpreisungen dieser Kinderlager: „Über ihrem Stalinschen Vaterland scheint die Sonne. Unser Volk ist von Liebe zu seinem Führer erfüllt, und unsere wunderbaren Kinder sind so glücklich wie unser ganzes junges Land.“ Applebaum erwähnt auch die Massenverschleppungen deutscher Frauen und Jugendlicher zur Zwangsarbeit, wobei die Deutschen schlechter behandelt wurden als andere Gulag-Insassen. Ausführlicher behandelt werden die sowjetischen „Speziallager“ auf deutschem Boden. Die Autorin betont ausdrücklich, hier seien keine großen NS-Bonzen oder Kriegsverbrecher interniert gewesen, sondern Angehörige der bürgerlichen Intelligenz, darunter sogar Hitlergegner – „denn wer es gewagt hatte, gegen den Nationalsozialismus zu kämpfen, konnte schließlich auch den Mut aufbringen, sich gegen die Rote Armee zu wenden“. Mit Stalins Tod endete das Lagersystem nicht. Kenntnisreich und einfühlsam schildert Applebaum die daraufhin ausbrechenden Machtkämpfe im Kreml und die Versuche Lawrentij Berias, das Gulag-System zu reformieren. Die Revolten in Workuta und anderswo sowie ihre brutale Niederschlagung, willkürliche Freilassungen und ebenso willkürliche neue Verhaftungen fanden statt. Allzu gutgläubig freilich geht Applebaum mit dem Zahlenmaterial um, das sie in sowjetischen Archiven fand. Insgesamt 18 Millionen Menschen hätten das Lagersystem „durchlaufen“. Meint sie nur die Überlebenden? Alle ernsthaften Kenner nennen weit höhere Zahlen. Absolut unglaubwürdig wirkt es, wenn sie schreibt, „zwischen 1943 und 1945“ habe es in der Sowjetunion 842.144 obdachlose Kinder gegeben, von denen 52.830 in Besserungsarbeitskolonien untergebracht wurden. Blieb etwa die Zahl über zwei Jahre konstant? Und wie konnte ein schlampiges, besonders während des Krieges chaotisch arbeitendes System derart exakte Zahlen beschaffen? Hier (und nicht nur in diesen beispielhaft ausgewählten Fällen) hätte man der Autorin etwas mehr kritische Distanz zu den sowjetrussischen Quellen gewünscht. Trotzdem: Das Buch ist ein großer Wurf. Anne Applebaum und dem Siedler Verlag sei Dank dafür. Anne Applebaum: Der Gulag. Siedler Verlag, Berlin 2003, gebunden, 734 Seiten, Abbildungen, 32 Euro

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