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Marc Jongen, ESN Fraktion

Die totale Mobilmachung

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Cato, Palmer, Exklusiv

Zwei Daten werden die Gedenkkultur im Jahre 2003 prägen. Vor hundert Jahren eröffnete Henry Ford in Detroit seine Fließbandfabrik, es gab zum ersten Mal einen industriellen Massenausstoß von Kraftfahrzeugen, „Autos für jedermann“. Und vor ebenfalls hundert Jahren absolvierten die Brüder Orvill und Wilbur Wright ihren ersten Motorflug, zum ersten Mal erhob sich ein mit Menschen besetztes Fluggerät, das schwerer als Luft war, aus eigener Kraft vom Boden und absolvierte einen motorgetriebenen Flug. Die Ära der Flugzeuge begann. Pessimisten werden die beiden Daten zusammenziehen und mit düsteren Farben markieren, etwa im Stil von Paul Virilio, der den Grundsatz aufgestellt hat, daß die Natur auf Langsamkeit programmiert sei und wir auf Massenmobilität und Geschwindigkeit versessenen Menschen laufend gegen die natürlichen Regeln verstießen. „Entweder wir werden wieder zur Schnecke – oder wir werden zur Schnecke gemacht“, mahnt Virilio und dürfte damit das Leitmotiv für viele kulturkritischen Artikelschreiber geliefert haben. Ist die Natur aber wirklich auf Langsamkeit programmiert? Daran darf man zweifeln. Nicht einmal für Schnecken gilt in allem das Prinzip Langsamkeit. Wohl schleimt sie sich langsam dahin, doch beim so wichtigen Geschäft der Fortpflanzung ist sie ein Weltmeister der Geschwindigkeit. Sie schießt Liebespfeile auf den Sexpartner, und zwar derart blitzschnell, daß die Ethologen ihr erst kürzlich auf die Schliche gekommen sind. Wenn wir beim Spaziergang durch einen Frühlingswald die angeblich so ruhige, gemächliche Heiterkeit der Umgebung genießen können, so nur deshalb, weil unsere Sinne die rasanten Vorgänge um uns herum gar nicht mitbekommen. Da wird ununterbrochen und – vom Standpunkt der Laborchemie aus betrachtet – mit geradezu angstmachender Schnelligkeit Sonnenlicht in Zucker und Sauerstoff umgewandelt. Da packen allerorten Beutegreifer – vom Hirschkäfer bis zum Buntspecht – so rasch zu, daß selbst ein scharfes Auge nicht merkt, was eigentlich geschieht. Überall regiert das Prinzip der kurzen Wege, der höchsten Effizienz. Auf die Natur darf man sich also bei der Rechtfertigung von Langsamkeit nicht berufen. Dort gibt es allenfalls relative Langsamkeit: Der eine ist langsamer als der andere und wird dadurch nur allzu oft dessen Opfer. Hingegen die Langsamkeit als Prinzip, das bewußte Verzögern bestimmter Vorgänge zum Zwecke emphatischer Lebenserhöhung, zum Zwecke des Lustgewinns, ist eine spezifisch menschliche Erfindung, und zwar eine Erfindung von Konservativen, die die Fülle des gelebten Augenblicks zu schätzen gelernt haben und nicht immer nur im Futurum leben wollen. Das findet seine Entsprechung in der Natur allenfalls in dem Umstand, daß Tiere in der Regel außerordentlich faul sind, daß sie ihre notwendigen „Besorgungen“ nicht zuletzt deshalb so geschwind verrichten, um danach in sicherer Deckung und voller Gemütlichkeit Stunden um Stunden zu verdösen. Die Natur verlangt Ausgeruhtheit, Geduld und Sorgfalt beim Anschleichen und Warten, aber Langsamkeit verlangt sie nicht. Was getan werden muß, das will sie schnell und ohne Umschweife getan haben, und wer daraus Lehren ziehen möchte, der kann die Erfindung von Alltags-Automobil und Motorflugzeug nur begrüßen. Außerdem entspricht Geschwindigkeit einer tief im Menschen eingewurzelten agonalen Sehnsucht. Die vielen Kampfspiele in allen Kulturen, die wir kennen, folgen im Grunde nur zwei Maßstäben: Kraft und Geschwindigkeit, wobei die letztere, worauf schon Huyzinga hingewiesen hat, im Durchschnitt noch höher bewertet wird als die Kraft. Schnell von einem Punkt an den anderen zu kommen, galt immer schon als das Höchste der Gefühle; davon zeugen unzählige Märchen und Sagen in allen Kulturkreisen der Welt. Auto und Flugzeug gehören zu den großen Sehnsuchtsträumen der Menschheit, stehen im Mittelpunkt sämtlicher technischer Utopien, von Roger Bacon bis Francis Bacon. Hört man genau hin, so richten sich die kulturkritischen Bedenken denn auch weniger gegen die Geschwindigkeits-Geräte an sich als vielmehr gegen die Begleit- und Nebenerscheinungen, bzw. Nebenfolgen: Gegen den unmäßigen Aufwand an Energie, den sie erfordern, die Verwandlung der Landschaft in lauter Straßen oder Start- und Landebahnen, die Lärmentfaltung, schließlich gegen den berüchtigten Stau, durch den sich Geschwindigkeit in ihr Gegenteil verkehrt. Wenn ich mit der „Concorde“ in vier Stunden von Paris nach New York gelangen kann, dann aber auf dem Wege vom Flughafen ins Hotel oder in die Kongreßhalle im Stau steckenbleibe, dann hat der traumhafte Concorde-Flug natürlich überhaupt keinen Sinn gehabt. Die Inanspruchnahme von Geschwindigkeit muß also tatsächlich genau bedacht, muß in ein Netzwerk der verschiedensten Instanzen und Bewegungsmöglichkeiten eingeordnet werden, wenn sich der Sinn des Ganzen nicht ins Absurde verkehren soll. Die sowohl schnellste als auch schonendste Ortsveränderung wäre das sogenannte „Beamen“ (von engl. „beam“ = Richtstrahler), wie wir es aus Science-fiction-Filmen und Fernsehserien kennen („beam me up, Scotty!“). Der Mensch wird durch den „Beamer“ völlig schmerzlos in seine elektronischen Partikel zerlegt und dann gewissermaßen als Elektronenblitz mit märchenhafter Überlichtgeschwindigkeit an jede beliebige Stelle der Erde, ja, des Weltalls, transportiert, um am Zielort vom „De-Beamer“ wieder in die volle Fleischlichkeit zurückgeholt zu werden. Das ist schnell und ungeheuer umweltschonend, ökologische Bewegungsweise schlechthin. Aber sie wird wohl immer eine Sehnsucht und eine technische Utopie bleiben. Unterm Strich gilt deshalb: Auto für jedermann und Motorflugzeug sind und bleiben erstklassige technische Errungenschaften, sie lagen von Anfang an im Trend der Natur, sowohl der äußeren als auch der inneren, innermenschlichen, und es gibt keinen Grund, sie zu verteufeln. Der Teufel steckt nicht im Gerät, sondern in der Hybris unserer Seelen, im Nichtgenugkriegenkönnen über das aktuelle Bedürfnis hinaus, in der Gier nach der Gier. Paul Virilio bringt das, einen Gedanken Ernst Jüngers aufgreifend, auf den Nenner der „Mobilmachung“. Das Generalprinzip der Moderne und des Kapitalismus heiße Mobilmachung. Ob Güterproduktion oder Formelproduktion im Wissenschaftsbetrieb, ob Geschwindigkeit oder Langsamkeit – als des Pudels Kern enthülle sich immer wieder eine irre Sucht nach Mobilmachung, nach sofortiger, blinder Maximierung und Beschleunigung des begonnenen Prozesses unter Einbeziehung sämtlicher Kräfte. Die Bewegung überrollt schließlich die Beweger, verschüttet die Zielvorgaben, wird Bewegung um ihrer selbst willen und führt am Ende zur völligen globalen Verwahrlosung. Das ist eine Gefahr, gegen die man alle Kräfte mobilisieren sollte. Aber Auto und Flugzeug als solche sind daran unschuldig.

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