Der Untergang des deutschen Ostens scheint sich in unseren Tagen zu vollenden. Landschaften, Geschichten, Mythen, Namen und Bilder jenseits von Oder und Neisse, die „langsam verblassen“ (Marion Gräfin Dönhoff) und bald aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden sein werden. Eine schleichende Amnesie, politisch gewollt und beschleunigt durch die staatlich verfügte finanzielle Austrocknung der Vertriebenenkultur. So wundert es nicht, wenn sich vor allem polnische, tschechische und seit geraumer Zeit auch russische Historiker der Geschichte jener Provinzen angenommen haben, die 1945 von den Armeen ihrer Länder besetzt, von ihren Regierungen annektiert worden sind. Ein Anzeichen dieser Aneignung ostdeutscher Geschichte ist die jetzt in deutscher Übersetzung veröffentlichte, 1994 im russischen Original erschienene Geschichte der Königsberger Albertus-Universität, die der an de heutigen Kaliningrader Universität lehrende Mathematiker und Astronom Kasimir Lawrynowicz verfaßt hat. Es ist der erste Versuch einer Gesamtdarstellung seit 1944, als der Bibliothekar Götz von Selle zur Feier des 400. Gründungsjubiläums den Ertrag seiner bildungshistorischen Forschungen in einem stattlichen Band präsentierte. Von Selle hat dieses Werk 1956 in zweiter, bis auf die Entfernung einiger NS-konformer Passagen aber unveränderter Auflage veröffentlicht. Seitdem scheint die Wirkungsstätte Immanuel Kants aus der Zuständigkeit deutscher Wissenschaftshistoriker ebenso entlassen wie die anderen Hochschulen im Osten, die Universität Breslau, die Technischen Hochschulen in Danzig und Breslau, die katholische Hochschule im ermländischen Braunsberg oder die vom liberalen preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker in den zwanziger Jahren gegründeten Pädagogischen Akademien in Stettin, Elbing und Beuthen. Wenn vor diesem Hintergrund jetzt ein opulenter, mit über 120 Abbildungen illustrierter Band zur Geschichte der ältesten Universität Preußens vorgelegt wird, könnte das also Anlaß zur Freude sein. Ist es aber leider nicht. Vom wissenschaftlichen Standpunkt betrachtet, erschließt Lawrynowicz nämlich kein Neuland. Das gilt für die Geschichte ihrer Anfänge als einer von Philipp Melanchthon inspirierten humanistischen Gründung, die zugleich Bildungsstätte und Ausstrahlungszentrum für die protestantische Lehre im seit 1525 säkularisierten Ordensstaat war. Das gilt ebenso für die „große Zeit“ der Albertina, die mit Kants Wirken begann und zu Anfang des 19. Jahrhunderts ihren Zenit erreichte, als Männer wie der Nationalökonom Christian Jacob Kraus die Universität in ein geistiges Zentrum der von Stein und Hardenberg geprägten preußischen Reformära verwandelten. Und das gilt schließlich für die bislang weitgehend unerforschten letzten Jahrzehnte zwischen 1900 und 1945, für die Lawrynowicz nur auf einige deutsche Aufsätze, primär aber auf die verdienstvollen Arbeiten Friedrich Richters kompilierend zurückgreifen kann. Wie überhaupt das gesamte Werk eine große Kompilation aus älteren deutschen Arbeiten ist. Auf eigene Quellenforschung, ohne die ein geschichtswissenschaftlicher Fortschritt nicht möglich ist, hat der Autor weitgehend verzichtet. Daß Lawrynowicz als Mathematiker die Geschichte der – mit Friedrich Wilhelm Bessel, Karl Ernst von Baer, Franz Ernst Neumann, Hermann von Helmholtz und David Hilbert freilich glänzend besetzten – naturwissenschaftlichen Lehrstühle im 19. Jahrhundert referiert und dabei die historisch-philologischen und juristisch-ökonomischen Disziplinen arg vernachlässigt, schafft zudem irritierende Disproportionen. Diese gravierenden Mängel des Werkes sollten freilich nur für den überschaubaren Kreis kundiger Wissenschaftshistoriker ins Gewicht fallen. Für die hoffentlich noch nicht zu kleine Zahl potentieller Leser, die an der ostdeutschen Geistes- und Bildungsgeschichte interessiert sind, dürfte nämlich das Urteil des Herausgebers Dietrich Rauschning gelten: Das selbst jene, die die Albertina noch erlebt haben, ihr Wissen aus diesem vom Verlag so vorzüglich ausgestatteten Buch bereichern können. In Anbetracht der eingangs erwähnten Amnesie ist das kein geringes Verdienst des Autors. Jessica Rohrer Kasimir Lawrynowicz: Albertina. Zur Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen. Herausgegeben vonDietrichRauschning,Duncker& Humblot, Berlin 2000, 519 Seiten, 98 Mark
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