Joachim Gauck hat bei der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Bombardierung Dresdens eine immerhin halbwegs um Differenzierung bemühte Rede gehalten. Er grenzte sich gegen jene ab, die „das Flächenbombardement trotz des ungeheuren menschlichen Leids als gerechte Bestrafung gebilligt (hätten), also eine Kollektivschuld unterstellt und deutsche Leiderfahrung gänzlich ausgeklammert“.
Dennoch war die Gaucksche Tendenz wieder unüberhörbar. Statt es beim stillen Gedenken zu belassen, mußte der Schuldprotestantismus ein weiteres Mal bedient und mit politischen Einlassungen garniert werden. So wurde der eben noch kritisierte Kollektivschuldvorwurf durch die Hintertür doch wieder erhoben: „Ich weiß aber auch: Ein Land, das für eine Ungeheuerlichkeit wie den Völkermord steht, konnte nicht damit rechnen, ungestraft und unbeschädigt aus einem Krieg hervorzugehen, den es selbst vom Zaun gebrochen hatte.“
… „um deutsche Schuld zu relativieren“
Und dann gebrauchte Gauck eine Vokabel, die im offiziellen bundesdeutschen Gedenkwortschatz selten fehlen darf – die „Instrumentalisierung“: „Was Dresden darüber hinaus zu etwas Besonderem macht, ist dies: Nirgends wurde Leid so stark politisch instrumentalisiert wie hier. Die Verfälschung der Geschichte begann schon unter nationalsozialistischer Herrschaft, setzte sich fort in Zeiten der DDR und wird selbst heute noch von einigen Unverbesserlichen weitergeführt. Vor wenigen Jahren hat eine unabhängige Historikerkommission nach sorgfältigen Recherchen die Zahl der Toten vom 13./14. Februar 1945 ermittelt: Es sind bis zu 25.000. Dennoch werden von einigen weiter höhere Opferzahlen behauptet, um alliierte Angriffe gegen nationalsozialistische Menschheitsverbrechen aufzurechnen, deutsche Schuld also zu relativieren.“
Er fuhr fort: „Ich will heute dankbar daran erinnern, daß Bürgerinnen und Bürger Dresdens es mindestens zweimal geschafft haben, sich der Instrumentalisierung des Gedenkens zu entziehen. Mit Kerzen in der Hand widersetzten sich in den 1980er Jahren kleine Gruppen mutiger Menschen dem Versuch, das Gedenken staatsoffiziell in antiwestliche Demonstrationen münden zu lassen. Und heute wehren sich Zehntausende Dresdener mit dem Symbol der weißen Rose gegen ein Gedenken, das, mal von rechts und mal von links außen, im Geiste eines übersteigerten oder umgekehrt eines negativen Nationalismus mißbraucht werden soll.“
Der Bundes-Obermoralprediger mit dem erhobenen Zeigefinger
Der Vorwurf der Instrumentalisierung von Geschichte ist natürlich ein einseitiger. Er wird, ähnlich dem Vorwurf des „Rassismus“ oder der „Diskriminierung“, nur gegen Deutsche erhoben, und zwar nur gegen jene, die den nationalen Körper zu stärken trachten. Es würde Gauck, Merkel oder anderen niemals einfallen, das Totengedenken ihrer westalliierten Freunde in irgendeiner Weise in Frage zu stellen und vor einer möglichen Instrumentalisierung gefallener Briten oder US-Amerikaner für politische Absichten zu warnen.
Dabei ist Instrumentalisierung ein universal feststellbares Phänomen. Quer durch alle Zeiten und Staaten wird der eigenen Helden und Opfer gedacht, um das Kollektiv zu festigen. Nur hierzulande erhebt stets ein Bundes-Obermoralprediger den Zeigefinger, daß man auch ja nicht „Schuld relativieren“ dürfe. Dabei wird gerade in der Bundesrepublik Geschichte instrumentalisiert, daß sich die Balken biegen. Man denke nur an die Politiker-Phrase von der „besonderen Verantwortung“ aus der NS-Schuld. Was heißt das eigentlich? Verantwortlich ist man ja stets für sein Tun. Können andere nun weniger „besonders“ oder wir gegenüber einigen anderen weniger verantwortlich sein?
Mißbrauch toter Flakhelfer zur Legitimierung von Masseneinwanderung
Ein Beispiel. Ende Januar berichtete die Presse von einer Gedenkfeier zum Tode einiger 1944 ums Leben gekommener junger Flakhelfer im hessischen Neu-Isenburg. Der von der CDU gestützte Bürgermeister legte einen Kranz ab und hielt eine Rede über die angebliche „Sinnlosigkeit“ des Kriegstodes (die der Sieger übrigens nicht so empfinden dürfte). Dann forderte er als Resultat der „sinnlosen“ Flakhelfer-Toten von 1944 zur Unterstützung von Menschen auf, die heute unter Krieg und Gewalt litten und deshalb als Flüchtlinge zu uns kämen. Ihnen sollten wir mit Nächstenliebe, Toleranz und Weltoffenheit begegnen. Zugleich mahnte er vor „fremdenfeindlichen Tendenzen“. Erstaunlich, wie man immer wieder zum Mantra des „Wir brauchen mehr Einwanderung“ kommen kann. Wenn das keine Instrumentalisierung von Kriegstoten ist!
Oder der „Antifaschismus“: Schon vor Jahrzehnten verbreiteten die „Jusos“, daß den Türken von heute das Schicksal der Juden von einst drohe. Deshalb müsse sie jeder gute „Antifaschist“ in einer Art nachgeholtem Widerstand „gegen rechts“ vor dem schlummernden deutschen Ungeist schützen. Doch keiner kann die als Projektionsfläche dienenden toten Juden fragen, ob ihnen eine derartige Instrumentalisierung eigentlich recht ist. Und auch kein toter Dresdner des Jahres 1945 kann gefragt werden, ob er in Gaucks Rede womöglich nur Instrumentalisierung entdeckt.