Es dämmert bald der Tag herauf, an dem der deutsche Untergang sein biblisches Alter erreicht: Vor 70 Jahren gaben die deutschen Streitkräfte im Mai 1945 ihren Widerstand auf. Doch schon mit dieser Feststellung dürfte garantiert sein, daß sich vielerorts Empörung regt, denn es strebt ein wesentlicher Teil der deutschen Gesellschaft danach, sich als an diesem Tag befreit zu betrachten. Kein Untergang also, sondern ein Anfang. Und überhaupt: Widerstand? Haben nicht „wir angefangen“ und deshalb die anderen Widerstand geleistet?
So hat denn die Metapher vom „Untergang“ schon vor gut dreißig Jahren mit zum Skandal des sattbekannten Historikerstreits beigetragen und den damals prominenten Historikerprofessor Andreas Hillgruber über Nacht mit ins Gefecht gezogen. Sie unter anderem hat ihn zur Unperson werden lassen. Allzu menschlich, wie sie eben sind, die Historiker, ließen ihn dann viele im Stich, als er vom streitlustigen Spiegel-Chef Augstein deshalb zum „konstitutionellen Nazi“ ernannt wurde. Das war eine jener trefflichen Wortbildungen des bundesdeutschen Journalismus, die zielsicher gesellschaftlich vernichten und doch unscharf genug sind, um nicht justiziabel zu sein.
Was war geschehen? Hillgruber hatte einen schmalen Band mit dem Titel „Zweierlei Untergang“ verfaßt und dabei den Untergang des europäischen Judentums mit dem Untergang der deutschen Welt in einem Atemzug genannt. Plötzlich war das Faß riesengroß, das hier geöffnet wurde, denn diese Parallelsetzung traf auf die schon in den achtziger Jahren starke Tendenz, die nationalsozialistische Judenverfolgung mit dem erkenntnistheoretisch zwar sinnlosen, aber rhetorisch wirksamen Begriff zu belegen, sie sei unvergleichlich.
Das Heuss’sche „Vernichtet und erlöst zugleich“ war näher an der Wahrheit
Hillgruber hatte daran eigentlich gar nicht rütteln wollen. Ein Überblick über sein Werk zeigt deutlich, wie er selbst zum Perspektivwechsel der Geschichtswissenschaft, weg von einer politisch-militärisch orientierten Sichtweise auf die Jahre 1939-45 und hin zu einer Zentralsetzung von Judenverfolgung und -ermordung beigetragen hat. Er hatte sich allerdings zum Ziel gesetzt, in diesem „Untergangs“-Band einmal die Motivation deutscher Frontkämpfer im Frühjahr 1945 mit ins Bild zu nehmen und an das zu erinnern, was sie versuchten zu verhindern – den deutschen Untergang eben. Diesem Kampf sprach ein Großteil der bundesdeutschen Publizistik jedoch inzwischen die Legitimation ab.
Man könnte in diesem Zusammenhang zum x-ten Mal an die bekannte Rede des damaligen Bundespräsidenten von Weizsäcker zum 8. Mai 1985 erinnern, die diese Tendenz etwa zeitgleich verstärkte. Aber lassen wir das. Andere Präsidenten wie Theodor Heuss hatten zuvor mit Blick auf das gleiche Datum von „vernichtet und erlöst zugleich“ gesprochen. Das war immerhin deutlich näher an der Wahrheit.
Im Prinzip erscheint jedoch der ganze Streit, mit dem der bundesdeutsche Reststaat sich mit sich selbst beschäftigt, um sich zum 8. Mai 1945 zu stellen, vielfach dem Geschehen unangemessen. Es feiert heutzutage darin nicht zuletzt ein bildungsferner Opportunismus der Regierenden jedes Jahr neue Normerfüllungen. Auch deswegen wird der Streit über dieses Datum weitergehen, denn die Normen zur Übernahme von allem, was sich aus diesem Datum angeblich ableiten läßt, werden stetig höher gesetzt. Nebenbei: Kennen Sie jemanden, der geglaubt hat, der gegenwärtige Bundespräsident werde die türkischen Armeniermassaker einen Völkermord nennen, ohne eine deutsche Mitverantwortung zu reklamieren? Andererseits: So wie dieser Trend läuft, kann es schließlich auch nicht bleiben, dazu ist der Druck der Geschichte zu groß. Dazu später mehr.