Eine kurze Zwischenbilanz der Reaktionen auf Akif Pirinçcis „Deutschland von Sinnen“. Die Debatte (bzw. Nicht-Debatte), die sich daran entzündet hat, ist noch interessanter als das Buch selbst. Schon jetzt bildet sie ein Unterkapitel einer erst zu schreibenden kollektiven Krankengeschichte.
Wer unter den zustimmenden Lesern auf eine Revolution gehofft hatte in der Art, daß Medienmacher und Politiker fortan ihre Finger lassen vom Gender-Schwulen-Ausländer-Quatsch, der wird – zumal nach dem Eurovision Song Contest – wieder einmal enttäuscht sein. Nichts hat sich geändert! Diesem resignativen Fazit ist entgegenzuhalten, daß Bücher noch niemals die Verhältnisse umgestoßen haben.
Daran gemessen, ist der Effekt der Streitschrift enorm. Die Delegitimierung der medialen Klasse schreitet voran. Zum ersten Mal hat sie einräumen müssen, daß ihre Meinungshoheit hohl und fragil ist. Sie hat die Verachtung, die ihr aus dem Buch und aus dem Publikum entgegenschlägt, nicht mehr ignorieren können und Wirkung gezeigt. Zu bedenken ist auch, daß Thilo Sarrazin dafür Vorarbeit geleistet hat und die Pirinçci-Debatte parallel zur Meinungsschlacht um Rußland stattfindet, die zwischen Journalisten und ihren Lesern in Online-Foren tobt.
„Sind wir Journalisten unehrlich?“ fragt die Zeit besorgt
Für den Prestigeverlust des Journalismus gibt es viele Gründe. Hier nur einer: Die Journalisten haben ihren Informationsvorsprung verloren. Die mitgeteilten Fakten, ihre Seriosität, die Auswahlkriterien, Weglassungen und Manipulationen lassen sich – das Internet macht’s möglich – in Minutenschnelle überprüfen und identifizieren. Der Abgleich macht die oft simplen und vorhersehbaren Strukturen sichtbar, in denen die meisten Medienarbeiter sich bewegen. Die wissenden Halbgötter sind zu Meinungs- und Ideologieproduzenten und zu lohnabhängigen Propagandisten geschrumpft. Die Vierte Gewalt ist entzaubert. Ihre Produkte finden immer weniger zahlende Abnehmer oder werden postwendend retourniert. Auf die Dauer wird das für sie bedrohlich.
Die Zeit sah sichgenötigt, ihren Redakteur Stefan Willeke auf Erkundungstour zu Lesern zu schicken, die mit Wut und Zorn auf die Autoren-Beschimpfung durch den Literatur-Chef Ijoma Mangold reagiert hatten. Willeke traf auf gebildete, wache, eloquente und, ja, liberale Leute – auf das ideale Zeit-Publikum halt. Daraufhin übte er sich scheinbar in Selbstkritik: „Sind wir, die Journalisten der großen Zeitungen, unehrlich? Man muß über uns keine Studien anfertigen, um zu erkennen, daß wir stärker zum rot-grünen Milieu tendieren als die meisten Wähler. Natürlich stammt kaum jemand von uns aus einer Hartz-IV-Familie. Natürlich leben wir viel zu oft in denselben bürgerlichen Stadtteilen derselben Großstädte, in Berlin-Prenzlauer Berg oder in Hamburg-Eppendorf. Altbau, hohe Decken, Fischgrätparkett. Natürlich leidet unser Blick auf die Welt unter dem Eppendorf-Syndrom.“
Den Zusammenhang zwischen materieller Abhängigkeit und Konformismus verwischt
Willeke wirft sogar die Frage auf, ob es „ein Elitenproblem in Deutschland“ gäbe. Doch gemach, gleich gießt er seinen Spott über eine Leserin aus und stellt die Hierarchie wieder her: „Sie möchte das Deutschland ihrer Jugend zurück, die fünfziger und sechziger Jahre. Sie möchte etwas Unmögliches haben, und weil sie nicht zugeben will, an eine Utopie zu glauben, glaubt sie Pirinçci jedes Wort.“
Man kann das als Ausdruck von Arroganz und Hybris lesen. Hybris ja, doch im übrigen bin ich geneigt, darin Unsicherheit und den Versuch zu sehen, die eigene Würde und die des Berufsstandes zu verteidigen. Willeke errichtet um sich und seinesgleichen eine Schutzmauer der ästhetischen und sozialen Distinktion („Altbau, hohe Decken, Fischgrätparkett“). Sie ist die Voraussetzung, um den Mainstream-Journalismus als selbstbestimmten Akt überlegener Geister und den unterstellten Eliten-Status als legitim erscheinen zu lassen.
Die soziale Situation, die Willeke behauptet, trifft aber nur noch auf eine Minderheit festangestellter Journalisten zu. Für die Mehrheit sieht die Lage anders aus, seit vor anderthalb Jahrzehnten die New-Economy-Blase platzte, der Anzeigenmarkt zusammen- und die Zeitungskrise losbrach. Auch in „großen Zeitungen“ wie der FAZ gab es ein Heulen und Zähneklappern. Indem Willeke die Voraussetzungen der Berufsausübung ästhetisiert, umgeht er den Zusammenhang zwischen materieller Abhängigkeit und ideellem Konformismus. Und was die Elite betrifft, sind die Pirinçci-Kritiker den Nachweis analytischer oder sonstiger Kompetenz bisher durchweg schuldig geblieben.
Tücke und Feigheit gesellen sich gern
Exemplarisch dafür steht die Internet-Kolumne des Spiegel-, Qualitäts- und Elite-Journalisten Georg Diez. Sie heißt „Gebrauchsanleitung der Gewalt“ und hebt mit den Sätzen an: „Bücher töten nicht, und Autoren sehr selten – doch ihre Gedanken haben Konsequenzen: Sie formen die Wut und die Menschenverachtung, die andere in Taten umsetzen.“ „Deutschland von Sinnen“ sei „das Hintergrundrauschen für echte Gewalt gegen Menschen. Ein Buch wie das von Pirinçci liefert damit die Begleitmusik etwa für den NSU-Prozeß.“
Hier stimmt gar nichts. Unter „Hintergrundrauschen“ und „Begleitmusik“ versteht man den Klangteppich, der das Geschehen auf der Leinwand oder auf der Bühne unterschwellig illustriert, bekräftigt, emotional vertieft. Die Begleitmusik zum NSU-Verfahren (nach über hundert Prozeßtagen kaum mehr als ein Hornberger Schießen) liefert doch wohl das Mediengeheule über den „rechten Terror“, über die „Gefahr von rechts“ im Land. „Deutschland von Sinnen“ setzt dazu einen Kontrapunkt. Übrigens hat Pirinçci dem Spiegel-Journalisten in der ihm eigenen Weise geantwortet.
Weder sprachlich noch analytisch ist Diez dem Buch und dem Elite-Anspruch gewachsen. Die „echte Gewalt“, die er halluziniert, sie wurde tatsächlich 2013 in Kirchweyhe durch einen ausländischen Mob an einem jungen Deutschen verübt. Statt auf die reale Bluttat einzugehen, schreibt er sie projektiv dem Autoren zu, der sie mit erschütternder Empathie thematisiert hat. Tücke und Feigheit gehen nun mal Hand in Hand. Diez scheut die Erfahrung der kognitiven Dissonanz, jener Mißempfindung, die jemand befällt, wenn er sich mit Tatsachen konfrontiert sieht, die seinem Weltbild widersprechen oder deren Erwähnung vom Über-Ich – dem Staat, dem Kultur- und Medienbetrieb, dem Brötchengeber – mit Stirnrunzeln registriert wird.
Die zurückgestaute Wut, die nicht sein darf, wird auf den „Rechten“ projiziert
Zurück zum „Eppendorf-Syndrom“. So weltfremd und gutverdienend können Journalisten gar nicht sein, um Entwicklungen und Ereignisse wie die in Kirchweyhe nicht mitzubekommen. Der Berliner Journalist Harald Martenstein – einer der wenigen Zeitungsautoren, deren Texte man um ihrer selbst willen liest – hat 2012 ein Erlebnis dieser Art öffentlich gemacht. Er sei „vor einigen Jahren“ spätabends in der Nähe seiner Wohnung von zwei 18jährigen mit türkischem Akzent nach Zigaretten gefragt worden. Nachdem er verneint hatte, sei er achtmal von ihnen geohrfeigt worden. Seitdem sehe er sich vor. Sein Sohn und dessen Freunde vermieden es, bei Dunkelheit in bestimmte Gegenden zu gehen. „Sie sehen zu deutsch aus.“
Martenstein hat jahrelang mit der Publizierung gewartet. Das ist ärgerlich, aber verständlich. Als erwachsener Mann von Jugendlichen geprügelt zu werden und ausdrücklich als Deutscher ein leichtes Opfer darzustellen, das sind Demütigungen, derer man sich geniert. Außerdem ist das Thema „nicht auf Linie“, wie man in der DDR sagte, und würde für einen weniger etablierten Journalisten ein Berufsrisiko bedeuten. Man kann davon ausgehen, daß viele vergleichbare Erlebnisse und Erfahrungen in rot-grünen Herzen verkapselt und in rot-grünen Hirnen ästhetisiert werden à la „schwere Kindheit“, „Diskriminierung“ und mangelhafte „Willkommenskultur“.
Die masochistisch zurückgestaute Wut und Erbitterung werden bei geeignetem Anlaß auf den zum Abschuß freigegebenen Feind – meistens auf den „Rechten“ – projiziert und in sadistischer Manier entladen. Der Feind – diesmal ist es der Herkunftstürke Pirinçci – soll schuld daran sein, daß die Wirklichkeit weniger harmonisch ist als das angeordnete (und schon verinnerlichte) Weltbild. Man verzeiht dem Feind nicht, daß er dieses Weltbild für einen Humbug hält und das auch äußert.
Der Lohn der Eifrigen
Und dieses sadomasochistische Verhalten darf auf Belohnung hoffen! Den Eifrigsten winken Einkünfte, Subventionen, Festanstellungen, Herrschaftsrollen.
Eine Krankengeschichte. Und eine praktizierte Staatsideologie. Diesem Zusammenhang wäre einmal gründlich nachzugehen.