Rein zufällig kam ich in den Genuß einer Stadtführung durch Magdeburgs Zentrum. Titel: Das dritte Rom. – Genuß? Magdeburg? Rom? Die Hauptstadt Sachsen-Anhalts dürfte kein Tourismus-Magnet sein. Wer dort nicht lebt und arbeitet, fährt durch. Ja, immerhin eine Großstadt, allerdings mit etwas sprödem, etwas postsozialistischem Charme, heute überprägt von den Symbolen des großes Kommerzes, immerhin ein Hundertwasser-Haus, die Grüne Zitadelle, sehr pittoresk und daher deplaziert wirkend dazwischen. Ansonsten viel Asphalt und Beton, wenig Lieblichkeit, nicht mal so recht an der geschotterten Elbe.
Aber nach einer so substantiellen wie gewitzten Führung ist man doch berückt von dem sehr deutschen Städteschicksal. Bereits karolingisch erwähnt, befestigte Heinrich I., der Liudolfinger, den im Reich exponiert östlich gelegenen Ort, von dessen gewaltigem erzbischöflichem Dom die Christianisierung des wilden wendischen Ostens jenseits der Elbe ausgehen sollte: Die Bistümer Brandenburg, Havelberg, Meißen, Merseburg, Posen, Zeitz-Naumburg und Lebus unterstanden Magdeburg, einem Kirchenstaat, von dem aus die Glocken bis Schlesien klangen.
Unter Heinrichs Sohn Otto I., ab 962 als deutscher König auch Kaiser, wurde der Ort Kaiserpfalz im späteren „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation“ und von daher tatsächlich ein drittes Rom. Ottos erste Frau, Editha, kam aus England. Da die Abwanderung der Sachsen dorthin noch nicht lange zurücklag, konnten die beiden sich problemlos über das Altsächsische verständigen. Otto II. wurde später mit der byzantinischen Kaisertochter Theophanu vermählt. Gut, sie war nicht ganz so purpurn, wie man es sich gewünscht hatte, denn ihr Vater Nikephoros war als Kaiser abgesetzt worden, aber immerhin kam das Reich dadurch der Augenhöhe mit dem zweiten europäischen Zentrum, dem byzantinischen, näher. Wie es wohl gewesen sein mag, wenn man als Griechin aus Konstantinopel für immer in die raue Elbluft Magdeburgs mußte?
Der New Yorker Broadway war der Breite Weg
Viel später gelangte Luther 1497 als dreizehnjähriger Schüler der „Brüder vom gemeinsamen Leben“ in die Stadt, die damals der Einwohnerzahl nach dem Format Kölns, Prags, Nürnbergs und Augsburgs entsprach. Er soll singend und bettelnd durch die Straßen gezogen sein. Damals nicht unüblich. Aber schon auf seinem Schulweg sah er, wie sich die Prälaten des Erzbistums mit den gewerblichen Damen vom sogenannten „Parat“ gegenüber vergnügten. Mag sein, daß bereits dies seinen reformatorischen Eifer vorbereitete. 1524 war er zurück und predigte in der Augustinerkirche erstmalig auf deutsch. Nicht in Wittenberg, in Magdeburg, dessen Kirchen sich im gleichen Jahr fast vollständig zum Luthertum bekannten. Nur der Dom blieb zunächst katholisch. Die Stadt entwickelte sich zu einer Hochburg des Protestantismus – „Unseres Herrgotts Kanzlei“ – und wurde daher nach monatelanger Belagerung im Dreißigjährigen Krieg durch die kaiserlichen Truppen unter Tilly und Pappenheim im Zuge der „Magdeburger Hochzeit“ vollkommen zerstört, „magdeburgisiert“, wie man solche Gemetzel dann zu nennen pflegte.
Die Bewohner hausten danach kümmerlich in den Ruinen und Kellern, bis Brandenburg-Preußen die Stadt völlig neu aufbaute – diesmal im barocken Stil und gleichfalls als zeitweilig stärkste Festung des Königreiches. Im Siebenjährigen Krieg wurde der Hofstaat Friedrichs II. dorthin verlegt, um in der Bedrängnis sicher zu sein. Die grandiosen Festungsbauten verdankte die Stadt dem so genialen wie dubiosen Festungsbaumeister Walrave, der seine letzten 25 Jahre in Magdeburg verlebte und dort starb, allerdings nicht in dem ihm überlassenen mietzinsfreien „Freihaus“ am Domplatz, sondern in den von ihm selbst ausbruchsicher konstruierten Kasematten der Sternschanze. Er soll den Grundriß seiner eigenen Festungspläne kopiert und an die Österreicher verkauft haben.
Ab 1816 war Magdeburg Hauptstadt der Provinz Sachsen in Preußen. Besonders imposant die Wohn- und Geschäftszeile des „Breiten Weges“, der barocken Hauptstraße der Stadt. 1607 übrigens sollen die dort ansässigen Händler die Mietpreiserhöhungen endgültig so statt gehabt haben, daß sie ihre Quartiere räumten und alles über Hamburg nach Neu Amsterdam verschifften, dem späteren New York. Aus Heimatnostalgie begründeten sie dort eine Kopie ihres ehemaligen „Breiten Weges“, den „Breedeweg“, der heute Broadway heißt. Ein weiterer Export: Der Gründer der amerikanischen Army, Friedrich Wilhelm von Steuben, ist ein Sohn Magdeburgs. – Und der wegen der Teilnahme an einem Duell in der Magdeburger Zitadelle einsitzende Werner Siemens entwickelte während der Haft experimentierend die Methode des elektrischen Galvanisierens. Die Welt verdankt Magdeburg also mehr als die berühmten Vakuum-Halbkugeln des Bürgermeisters Otto von Guericke.
Die Kommunisten sprengten viele wiederaufbaufähige Kirchen
Der Zweite Weltkrieg „magdeburgisierte“ die Stadt ein weiteres Mal. Während eines Luftangriffes der Royal Air Force wurden 90 Prozent der Innenstadt zerstört, unter anderem fünfzehn Kirchen: 2.000 Menschen starben, 190.000 waren ausgebombt. Mit heftigen Kämpfen besetzten die Amerikaner den west-, die Rote Armee den ostelbischen Teil der Stadt. Die DDR baute einerseits vieles wieder auf, manches gar im nachgeahmten Barock, vieles aber im „sozialistischen Klassizismus“, aber sie ließ auch weitere Kirchen sprengen, deren Wiederaufbau möglich gewesen wäre. Die im 19. Jahrhundert entstandene Schwer- und Rüstungsindustrie arbeitete in SAG-Betrieben für Reparationen, die in die Sowjetunion gingen.
Nicht nur Berlin, Hamburg, Köln, München, Dresden und Weimar sind Städte deutschen Geschicks und Ungemachs, auch das etwas vergessene Magdeburg – eine Großstadt, die sich und ihr Gesicht immer neu erfinden mußte.