Die Abschaffung der Schreibschrift schreitet voran, und vielen Eltern wird das erst bewußt, wenn die Lehrpläne geändert sind und die Schulen sich danach richten. In Thüringen etwa gibt es den neuen Grundschullehrplan bereits seit dem Schuljahr 2010/11. Doch erst jetzt, zu Beginn des neuen Schuljahres, ist in der Öffentlichkeit eine Debatte darüber entbrannt, daß die Schreibschrift nicht mehr verbindlich unterrichtet werden muß.
Der Grund für das verspätete Entsetzen liegt darin, daß die Grundschulen erst nach und nach aufhören, Schreibschrift zu unterrichten. Der Lehrplan läßt die Schreibschrift nämlich zu, schreibt sie aber auch nicht vor. So führen die meisten Lehrer zunächst ihren gewohnten Schreibschriftunterricht fort. Mit Pensionierungen und Lehrerwechseln verschwindet er dann allmählich.
Handschrift bedeutet nicht Schreibschrift
Ute Eckert als zuständige Referentin beim Thüringer Institut für Lehrerfortbildung formuliert es so: „Er [der Lehrplan] legt es in das Ermessen der Lehrer, die ihre Schüler genau kennen, sinnvolle Angebote und Übungen zu machen, mit denen jedes Kind bis zum Ende von Klasse vier eine individuelle Handschrift erlernen kann.“ Und Handschrift bedeutet nicht zwangsläufig Schreibschrift. Die Lehrer der weiterführenden Schulen ab der 5. Klasse haben dann eben Pech gehabt, wenn sie die „individuellen“ Schriften ihrer Schüler entziffern müssen.
Nun ist allerdings der Aufschrei da, verspätet, aber vernehmlich. Elternsprecherin Anke Schmidt von der Grundschule in Kranichfeld etwa ist entsetzt: „Selbst jetzige Erstkläßler, welche bereits mit der Schreibschrift angefangen haben, bekommen sie von Seiten der Schule nicht weitergeführt.“ Die katholische Elternschaft in Thüringen schreibt in einem offenen Brief an Kultusminister Matschie: „Schreibschrift zu erlernen ist eine enorme feinmotorische Leistung des Schulanfängers. Unabhängig von den unterschiedlichen Möglichkeiten der Elternhäuser werden alle Schüler in ihrer Auge-Hand-Koordination trainiert. Ja, das braucht Zeit. Zeit, die gut investiert wäre: Dies ist eine Art von praktischer Intelligenz, die jeder junge Mensch im weiteren Leben gut brauchen kann, egal, ob er später eine Lehre oder ein Hochschulstudium anstrebt!“
Wegen Schönschrift gemaßregelt
Axel Schneider, Direktor der Thüringer Verwaltungsschule, empört sich: „Da klagen nun seit Jahren die Schulmediziner über den zunehmenden Verlust feinmotorischer Fertigkeiten bei Kindern; gleichzeitig ist dank der Dauerreformitis, von der unser Bildungssystem befallen wird, ein zunehmender Prozentsatz von Schulabgängern nicht ausbildungsfähig und bedarf einer kostenintensiven Nachschulung. Und was fällt unseren sogenannten Bildungsexperten als Antwort ein? Eine weitere Absenkung der Anforderungen durch die Abschaffung der Schreibschrift.“
Zwar tadelte Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht bereits die Vorgabe des Kultusministeriums, die Schreibschrift aus dem Lehrplan zu verbannen, doch es hilft nichts: Das Kultusministerium bekämpft gezielt das schöne Schreiben. Als das Mittelthüringer Schulamt bei einem Aufsichtstermin feststellte, daß Lehrer noch Schönschrift vermittelten, maßregelte es diese wegen Verstoßes gegen den Lehrplan. Das bedeutete das Ende der Schönschrift. Auf der anderen Seite eröffnen sich für Lehrer ungeahnte Möglichkeiten. Referentin Eckert rät nämlich, daß die Schüler verschiedene Schriftarten zumindest kennenlernen sollten, zum Beispiel auch – Sütterlin.