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Aus dem Moränenland

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„Es ist meine sehr abendländische Form der Meditation“, schrieb Heino Bosselmann vor einigen Wochen über seinen allmorgendlichen Lauf nach Fuchsfeld, das seinem Namen offenbar alle Ehre macht und mit ähnlichem Recht eigentlich nur noch Hasenfeld heißen könnte.

Ebenso stimmig wie Bosselmanns Beschreibung der verharschten Raps- und Weizenfelder, der frierenden Rehe, Raben und Kraniche ist die geistesgeschichtliche und beinahe metaphysische Einordnung seines 10-Kilometer-Laufs, obwohl man auf den ersten Blick stutzig wird: Was ist denn „abendländisch“ und „meditativ“ an dieser – noch dazu mit Liegestützen, Sit-ups, Klimmzügen und Boxeinlagen angereicherten – Betätigung, deren sportlichen, ja sogar „angenehm militanten“ Charakter Bosselmann explizit hervorhebt?

Eigentlich alles, wenn man es recht bedenkt. Es beginnt schon mit der Bewegung selbst und deren Verbindung mit Erkenntnisstreben und Sinnsuche. Der orientalische Mensch zieht sich in die Einsamkeit zurück, verharrt möglichst regungslos und sucht sein Denken von den Dingen abzuziehen, um es der inneren Schau – der Leere im indischen oder Gottes im semitischen Kulturkreis – zuzuwenden. Unter dem Einfluß indischer Kontemplationstechniken verstehen wir heute vor allem dies unter „Meditation“, während dieser Begriff früher, etwa in Descartes‘ „Meditationes de prima philosophia“ das aktive Nachdenken meinte.

Kultur des Spaziergangs

Die Natur wird in der östlichen Meditation als ablenkend und störend empfunden, das Eigentliche liegt jenseits. Der abendländische Mensch ist hingegen auch beim Denken in Bewegung, und die Natur selbst ist das zu Ergründende. Die antiken Philosophen ergingen sich, ins Gespräch vertieft, in den Wandelhallen, nach denen die aristotelische Schule der Peripatetiker benannt ist. Auch wenn er allein ist, wird der geistig Arbeitende öfter von seinem Buch (oder Laptop) aufstehen und beim Nachdenken verschiedene Standpunkte abschreiten.

Viele europäische Philosophen zelebrierten, besonders seit der Aufklärung, geradezu eine Kultur des Spaziergangs; Rousseau verfaßte „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“, von Kant, dem geistigen Vermesser von Pflicht und Ordnung, ist die Pünktlichkeit überliefert, mit der er seinen täglichen Spaziergang antrat, das späte neunzehnte Jahrhundert brachte den urbanen Flaneur hervor, der sich durch das Meer der Großstadt treiben ließ, und im zwanzigsten zog es den nonkonformen Denker auf den „Feldweg“ (Martin Heidegger) oder als „Waldgänger“ (Ernst Jünger) in Bereiche fernab der Massengesellschaft. Ein weiterer Vetter des Spaziergängers ist der Wanderer: er tritt als romantischer Anti-Bürger und „Taugenichts“ auf und wird, anders als sein zahmer Verwandter, der sich im gewohnten Umkreis bewegt, von einer Sehnsucht nach der Ferne – hinter der sich ein metaphysisches „Heimweh“ angesichts existentieller Unbehaustheit verbirgt – fortgezogen; daneben gibt es auch den nachromantischen Typus des zweckorientierten Wanderers, der seine Rüstigkeit mit einem touristischen, lebensreformerisch-jugendbewegten oder nationalpädagogischen Nutzen verbindet. An ihm läuft schließlich, physisch und mentalitätsgeschichtlich, der „Jogger“ vorbei, der nur noch seine Zeit und seinen Puls mißt.

Charakter der Nähe

Zweifellos ist die Kultur des Spaziergangs, der Wanderung oder auch des beschleunigten Laufes – Bosselmann vermeidet den Begriff „Jogging“ für seine Art des Laufens bewußt und zurecht – mit bestimmten landschaftlichen und klimatischen Bedingungen verbunden: In Eis- und Sandwüste oder im tropischen Regenwald vermeidet man unnötige Bewegungen und wird sich zur Kontemplation einen geschützten Ort suchen; in lieblicher mediterraner Landschaft überwiegt der Charakter der Nähe beziehungsweise laden immer neue Orte zum Verweilen oder zu kurzen Spaziergängen ein, während die nordische Landschaft aufgrund des Vorwaltens des Ferne-Charakters endloser Wälder, Meeresküsten oder der Horizontlinien der Berge dazu veranlaßt, immer weiter zu wandern.

Erhabenheit, Monotonie und Düsternis der Landschaft sowie die Dominanz des Himmels lassen eine „kosmische“ Welthaltung aufkommen, die sich vom „beschaulichen“ und „harmonischen“ Sich-Ergehen des Spaziergängers, der das am Wege Liegende im Blick hat, unterscheidet – beide aber, der „nordische“ (und romantische) Wanderer und der „klassische“ Spaziergänger im behaglichen Gefilde, sind dem orientalischen Menschen entgegengesetzt, der seine Mußestunden in der, vom äußeren Markttreiben geschiedenen, schattigen Innenwelt seines Hauses verbringt und sich zur Meditation in die Einsamkeit zurückzieht.

Bodenhaftung und „Konservatismus“

Vielleicht wirken hier noch Relikte archaischer Lebensformen hinein? Der Jäger und Sammler ist stets auf der Suche, erlangt Erkenntnis im Finden des Richtigen, bedarf einer dynamischen Beweglichkeit und entwickelt eine konkret-empirische Lebensauffassung; der Hirte betrachtet, am nächtlichen Feuer liegend, den gestirnten Himmel und denkt über das Unendliche nach; der Bauer hat gelernt, auf die Gesetze des jahreszeitlichen Wandels zu achten und tendiert zu Bodenhaftung und „Konservatismus“.

Natürlich ist auch der Bauer abendländisch, aber es gibt ihn ebenso in Afrika, während sich der philosophische Typus nur in Europa oder, nimmt man Indien hinzu, dort ausbildete, wo der indoeuropäische Mensch in einem gemäßigten, freiwilliger und „nutzloser“ Bewegung zuträglichen Klima lebte. Und wie sich Landschaft und Seele beim Lauf durch das Moränenland spiegeln, auch und gerade dort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, erkennen wir im von Heino Bosselmann gegründeten Moränenland-Verlag, dessen erster Gedichtband „Urstrom“ soeben erschienen ist.

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