Der „zweifache Nationsbegriff“ der Ungarn sei einer der Gründe, warum EU-Alteuropa den Magyaren so sehr mißtraut, führt Georg Paul Hefty in einem lesenswerten, leider nicht kostenfrei zugänglichen Beitrag in der Samstags-FAZ vom 5. Mai aus. Politischen Ausdruck findet der „zweifache Nationsbegriff“ in der neuen ungarischen Verfassung, die zwischen Staatsnation und Volk als Sprach- und Abstammungsgemeinschaft differenziert und vor allem deswegen – und wegen des expliziten Gottes- und Familienbezuges – zum Ziel eines regelrechten Kulturkampfes von seiten der EU-Kommission geworden ist.
Hefty zitiert aus der „Nationales Glaubensbekenntnis“ überschriebenen Präambel der neuen Verfassung: „Wir versprechen, daß wir die geistige und seelische Einheit unserer in den Stürmen des vergangenen Jahrhunderts in Teile zerrissenen Nation bewahren.“ Und weiter: „Geleitet von der Idee der einheitlichen ungarischen Nation, trägt Ungarn Verantwortung für das Schicksal der außerhalb seiner Grenzen lebenden Ungarn, fördert den Bestand und die Entwicklung ihrer Gemeinschaften, unterstützt ihre Anstrengungen zur Bewahrung ihres Ungarntums, bringt ihre Zusammenarbeit untereinander und mit Ungarn voran.“
Man muß schon Eurokrat oder komplett geschichtsignorant sein, um solche Formulierungen anstößig zu finden. Den meisten Europäern sei der doppelte Nationsbegriff fremd oder zumindest fremd geworden, stellt Hefty fest; die Deutschen hätten mit der Wiedervereinigung aufgehört, darüber nachzudenken, während die Ungarn gerade wieder damit anfingen.
Im Grundgesetz nur noch den Buchstaben nach vorhanden
Das ist zweifach fatal: Zum einen, weil es auch nach der Wiedervereinigung noch Deutsche außerhalb der deutschen Grenzen gibt, die politische Fürsorge verdient hätten – als Folge der Niederlagen in beiden Weltkriegen, nach deren zweiter Deutschland noch ärger zerstückelt wurde als Ungarn nach dem ersten, aber auch, weil das historisch entstandene Volksdeutschtum in Mittel-, Ost- und Südeuropa in Resten noch immer besteht.
Man könnte in den zitierten ungarischen Verfassungstexten mühelos statt „Ungarn“ „Deutschland“ bzw. „Deutsche“ einsetzen und das Resultat als konkreten Auftrag begreifen. Im Grundgesetz ist dagegen der volksbezogene Nationsbegriff zwar dem Buchstaben nach noch vorhanden, faktisch kümmert sich die Politik schon lange nicht mehr drum.
Das ist um so ärgerlicher, als der „zweifache Nationsbegriff“ ja recht eigentlich in Deutschland entstanden ist. Anders als die meisten Sprachen, auch das Ungarische, kennt das Deutsche sogar verschiedene Begriffe für beide Aspekte: „Volk“ und „Nation“. Nation beschreibt dabei das politisch organisierte Staatsvolk, das als Träger eines Nationalstaates zugleich handelndes und souveränes Subjekt im internationalen Verkehr mit anderen Nationen ist, während unter Volk eine ethnisch-kulturelle, durch gemeinsame Geschichte und Überlieferungen verbundene Abstammungs-, Sprach- und Kulturgemeinschaft zu verstehen ist.
Der deutsche Volksbegriff stand bei dem ungarischen Pate
Volk und Nation sind nicht notwendig deckungsgleich und waren es tatsächlich in der europäischen und insbesondere deutschen Geschichte häufig auch nicht. Angehörige desselben Volkes können in verschiedenen Staaten leben und Glieder unterschiedlicher Nationen sein, während Angehörige unterschiedlicher Völker oder Volksgruppen durchaus zu einer Nation verbunden sein können. Auch die neue ungarische Verfassung sieht die in Ungarn lebenden Nationalitäten und Ethnien selbstverständlich als Teile der ungarischen Nation.
Der Widerstreit zwischen dem französischen Nationsbegriff („Franzose ist, wer in Frankreich lebt“) und dem deutschen „volkstumsbezogenen Vaterlandsbegriff“ („so weit die deutsche Zunge klingt“) prägte das Ringen der Deutschen um die Gründung des modernen deutschen Staates im 19. Jahrhundert und wirkt bis heute fort. Mit der „kleindeutschen“ Reichsgründung von 1871, der Österreich nach tausendjährigem gemeinsamem Weg von der Mehrheit der Deutschen trennte, war entschieden, daß der Nationalstaat der Deutschen nicht das ganze deutsche Volk umfassen würde.
Der französische Nationsbegriff führte in der Vergangenheit zu mitleidloser Zwangsassimilation autochthoner Volksgruppen. Auch Ungarn wandte dieses Prinzip im 19. Jahrhundert an, als sein Reich noch viele fremde Völkerschaften umfaßte, und ist daran gescheitert. Den Volksbegriff der Deutschen entdeckten die Ungarn erst nach dem Vertrag von Trianon 1920.
Der französische Nationsbegriff setzt sich in der EU durch
In der Welt der EU-Politklasse soll es nur noch eine technokratisch reduzierte Version des französischen Nationsbegriffs geben: Staat gleich territoriale Verwaltungseinheit, Staatseinwohnerschaft gleich Nation, nationale Fragen und Bindungen sind auszuschalten, weil sie die freien Waren- und Menschenströme stören.
Aber gerade in Frankreich läßt sich studieren, daß dieser abstrakte Nationsbegriff angesichts massiver außereuropäischer Einwanderung ins Absurde umschlägt und zum Scheitern verurteilt ist. Nordafrikaner und Türken werden nicht dadurch zu Franzosen und Deutschen, daß man sie automatisch einbürgert. Zugehörigkeit zur Staatsnation wird üblicherweise durch Bekenntnis und Einbürgerung erworben, die im Idealfall eine bewußte Integrations- und Assimilationsentscheidung vollendet und nicht etwa Voraussetzung von „Integration“ ist; Zugehörigkeit zum Volk als Abstammungsgemeinschaft ist dagegen das Ergebnis eines längeren, über Generationen hinweg sich vollziehenden Einschmelzungs- und Vermischungsprozesses.
Voraussetzung für das eine wie für das andere ist der beiderseitige Wille zur Zusammengehörigkeit und ein ausreichender Vorrat an Gemeinsamkeiten. Wer zwischen Volk und Nation unterscheiden kann, weiß das. Auch deshalb täten wir besser daran, gemeinsam mit den Ungarn den „zweifachen Nationsbegriff“ hochzuhalten, statt uns dem einfältigen und wirklichkeitsignoranten EU-Sprech auszuliefern.