Es verwundert, weshalb einerseits der „Fachkräftemangel“ zu einem stehenden politischen Begriff avancierte, andererseits aber das Ursachengefüge dieses Problems nicht wahrgenommen wird. Wie erklärt sich, daß in Deutschland einerseits prozentual so viele Jugendliche wie nie zuvor das Abitur ablegen und an die Hochschulen und Universitäten drängen, andererseits aber Ingenieure und Mediziner weltweit angeworben werden müssen – zunehmend in ehemaligen Ostblock- und Schwellenländern, wo sie dann wiederum fehlen und mit Entwicklungshilfen ausgeglichen werden.
Statt pauschal den demographischen Wandel zu beschwören, sollte man eher fragen, weshalb in Deutschland etwa zehn Prozent der Schüler die Schule und über zwanzig Prozent der Studenten das Studium abbrechen. Haltungsfragen? Mangelnde Anstrengungsbereitschaft? Nirgends wird das so benannt, dürfte aber nicht unwahrscheinlich sein. Eingestanden, es mag vielfältige persönliche Zwangsläufigkeiten und widrige Umstände geben, die jemanden zur Aufgabe zwingen, nur sind dafür die Abbruchsraten signifikant zu hoch! Das hat mit demographischem Wandel rein gar nichts, mit der Entwicklung gesellschaftlicher Werte und Normen aber eine Menge zu tun.
Abkehr von der Leistungsgesellschaft
Schulabbrecher können ihr Scheitern kaum mehr mit zu rigorosen Prüfungen erklären. Außerhalb des Gymnasiums gibt es dergleichen kaum oder nur noch in einer Art symbolischer Farce. Um etwa in Mecklenburg-Vorpommern die „Berufsreife“ attestiert zu bekommen, ist die Teilnahme an der lediglich angebotenen „Leistungsfeststellung“ völlig freiwillig! Niemand muß dort etwas absolvieren. Anwesenheit reicht. Generell gilt: Weniger Prüfungen, mehr Resultate zuerkennen.
Und genau dort beginnt das Problem. Die früher für einen Schulabschluß erforderliche Leistungsbereitschaft und das Leistungsvermögen sind nicht mehr obligatorisch. An Schulprüfungen zu scheitern, das gilt heute als unzumutbare und diskriminierende Selektion, der die Pädagogik – ähnlich dem verpönten Sitzenbleiben – bitte vorzubeugen habe. Man muß wohl lange Jahre Lehrer an einem sogenannten Gymnasium gewesen sein, um zu wissen, welcher Betreuungs- und Förderaufwand erfordert ist, einen Jahrgang durch das Abitur zu bringen, auch jene Aspiranten, die überhaupt nicht an die Hochschulen wollen oder dort scheitern werden, obwohl auch die akademischen Anforderungen mit Bologna – den Druck durch Punktesammelei und zeitliche Enge zugestanden – längst den alten Prüfungsschrecken verloren haben dürften.
Abitur für alle
Wenn dennoch schon in der Schule permanent über Streß, Überlastung und das gesamten Spektrum psychosomatischer Leiden geklagt wird, sagt das viel über physische und psychische Belastbarkeit, über die Fähigkeit zur Selbstorganisation und sicher auch über formalen Unfug aus. Es mag sogar so sein, daß Quantifizierung streßt, wenn sie die Qualifizierung ersetzt. Außerdem: Eine Politik die beinahe alle auf dem Gymnasium sehen will, überfordert viele, obwohl sie von sich aus meinen, sie gehören dort hin.
Jenseits von Bayern und Baden-Württemberg sind längst Regularien erprobt, die jeden Abiturienten eher über die letzten Hürden tragen, als ihn nur davorzustellen. In Mathematik oder Deutsch durchgängig zu versagen oder sich mehr oder weniger schlecht durchzulavieren – kein Problem, wenn man nicht insgesamt zu viele einzelne Fach-Semester im Verlaufe der Abiturstufe „unterbelegt“ hat. Im Fach Deutsch wäre das in Mecklenburg beinahe ein Kunststück, denn die elementarsprachliche Bewertung kommt dort wie anderswo schon ganz ohne Fehlerquoten aus, es gibt also keine Orthographie- und Grammatiknote, längst nicht mehr, und auch in Mathe wird stetig reduziert. Ob man durchkommt, kann man sich rechtzeitig ausrechnen oder ausrechnen lassen.
Deutsch und Mathe sind Kür, nicht Pflicht
Schriftliche Prüfungen in Deutsch oder Mathematik sind außerdem in Mecklenburg gar nicht zwingend; gefordert wird lediglich, daß eine Prüfung abgelegt wird, also gern durchaus eine mündliche, die Aufgabenstellungen des schriftlichen Zentralabiturs umgeht und sich besser bewerkstelligen läßt, wenn die Regie des Fachlehrers geschickt entgegenkommend und kulant verfährt. Konsultationen im Vorfeld sind selbstverständlich üblich, manche gehen so weit, daß das Prüfungsthema danach für Mitdenker kein allzu großes Geheimnis mehr ist und alle Antwortreflexe eingeübt sind. Die Sprachregelung dazu: Das Pensum wird eingegrenzt, von kühlen Prüfungsprofis bis auf ein Thema oder einen einzigen Aufgabentyp. Schließlich möchte man am Ende der Schulzeit doch Möglichkeiten aufzeigen, nicht Grenzen! Der Revisionsdruck von „Schulaufsichtsbehörden“ ist ohnehin kaum spürbar. Sind nur die Protokolle und Akten korrekt, ist alles korrekt.
Wer sich schriftlich ausprobiert, aber schlecht abschneidet, hat das Recht auf eine zweite mündliche Prüfung, ja kann sogar in eine solche hineingewiesen werden – immer mit dem Ziel, den gerade allzu dramatisch gefallenen Schnitt mit einer rechnerisch gewichtigen mündlichen Prüfungsnote wieder nach oben zu multiplizieren. Scheitert dieses Krisenmanagement, wurde der Abiturient, heißt es, nicht optimal darauf eingestellt, im Pädagogendeutsch: nicht dort abgeholt, wo er stand. Und er stand leider schlecht. Meist schon immer.
Bildungsauftrag: Super Schnitte liefern!
Insofern die Abschlüsse eher als Bringschuld der Schule bzw. der Lehrer verstanden werden, lassen sich Anstrengung, Selbstüberwindung, Eigenständigkeit in der Lernarbeit allzu wenig trainieren. Der Bildungsbereich versteht sich als Dienstleister in Sachen Erfolg, die privaten Bezahlinstitute sogar noch mehr als die staatlichen Schulen. Ihr Marktsegment: Super Schnitte liefern! Private „Elite-Bildung“ ist nach meiner Erfahrung kaum mehr als ein offensiver Marketingbegriff. Sicher es werden eigens bezahlte Sonderbedingungen, etwa kleine und kleinste Klassen, ermöglicht, aber darüber hinaus geht es um „Selling-Points“ für ein solventes Publikum, dessen Erbengeneration den staatlichen Standardbereich als zu schwierig und die Betreuung und Förderung als ineffizient empfindet, als zu wenig schick sowieso. Von Betreuung und Förderung – also davon, was früher mal allzu hart Nachhilfe genannt wurde – lebt überhaupt schon eine kleine pädagogische Industrie.
Was der betreute Durchschnitt an der Schule noch bewältigt, weil ganze Krisenstäbe zur Intervention bereitstehen, einem zu helfen, daran scheitert er an der Universität, weil Eigenverantwortlichkeit fehlt, zumal die Eltern aber den Professor nicht ebenso in die Pflicht nehmen können wie vorher den Lehrer. Rückschauend ist jedoch der Lehrer an allem schuld. Geschlußfolgert wird bislang allgemein das Falsche: Anforderungen senken! Wo ohnehin jeder schon eingangs als Talent gilt, erscheinen anspruchsvolle Examina ausgangs nicht mehr so wichtig, sondern nur wieder nervig.
Umgeben vom Mittelmaß verdämmern die Talente
Diese Polemik übersieht nicht, daß es kluge und starke Schülerpersönlichkeiten, so wie immer, nach wie vor gibt. Nur laufen diese Talente Gefahr, umgeben vom Mittelmaß zu verdämmern, wenn sie keine Idee vom eigenen Selbst entwickeln.
Kürzlich unterhielt ich mich zum Thema mit einem Sportlehrer, der gemeinsam mit mir trainiert. Er sah gewisse Parallelen und meinte, sich im Sport zu schinden, sich abzurackern, mal im Wettstreit besser zu sein als der andere, das gilt nach seinem Empfinden längst nichts mehr. Das wäre „uncool“. Deshalb gäbe es übrigens so wenige starke Leichtathleten. „Cool“ wäre es, ganz „gechillt“ als Letzter durchs Ziel zu kommen. Vielleicht ist das Ausdruck des Problems. Schule reduziert sich neben staatsbürgerkundlicher Ausbildung in Gesinnungsfächern vor allem auf eines: Marktfähigkeit. Unterm Strich funktioniert das, mindestens für Konsumenten.