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Ein Jubiläum

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Ein Jubiläum

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Vor dreißig Jahren legte ich meine Reifeprüfung ab. So hieß das damals. Auch in der DDR, die sich zehn Prozent der Schülerschaft nach Leistungskriterien als Abiturienten aussuchte, von einer sozialistischen Elite träumte und selbst davon noch ein paar durchfallen ließ oder aus ideologischen Gründen in die Produktion verabschiedete. Ich hatte es im Sommer 1982 trotz einer vorübergehenden Relegation im Vorjahr geschafft und wiegte mich in der trügerischen Sicherheit, es könne mir jetzt im Leben kein Ungemach mehr widerfahren. Passend zum Ende des Paradieses Pubertät, flutete die Neue Deutsche Welle den NDR 2: Da da da. Skandal im Sperrbezirk. Ich will Spaß. Ich war der Goldene Reiter. Zwischendrin Nicole: Ein bißchen Frieden…

Die paar Monate bis zur Einberufung arbeitete ich auf dem Bau. Während wir in einem Schulkeller Estrich ausbrachten, hörten wir Deutschlandfunk und verfolgten das Ende der sozial-liberalen Koalition im Westen, erfuhren von Lambsdorffs Strategiepapier, dem „Scheidebrief“ also, der Genschers lange Rochade vorbereitete, die am 1. Oktober per konstruktivem Mißtrauensvotum vollzogen wurde.

Helmut Schmidt trat also indigniert ab. Er hatte unser Aufwachsen in den Siebzigern übers Westfernsehen wie der unbekannte Westonkel begleitet. Ein ähnlich smarter Seitenscheiteltyp wie all die Bundesbürger, die in ihren Ford Taunus, Granada, Capri und Opel Kadett, Ascona, Commodore, Diplomat usw. usf. die Trabis unserer Eltern auf der Transitstraße F 5, der Berlin-Hamburger, überholten und im Intershop der Raststätte Quitzow einkauften. Manchmal luden sie den Kellner im Restaurant nach preiswertem Essen generös zu einer „Stuyvesant“ oder „Lord Extra“ ein. Der blickte sich vorsichtig um, bedankte sich artig und bekam Feuer.

Zwölfmannbude, sechs Betten, Fenster zum Appellplatz

Neben den gediegenen Westlern mit ihrer schwarzen Stickrose auf dem Hemdbauch gab es im Transitbereich noch die zottelige Sorte, jene mit den Bullis und gegen Atomkraft. Verdammt lockere Typen, dachten wir damals. Ihr Internationalismus bestand darin, manchmal ein Büchsenbier rauszurücken.

Als ich im November eingezogen wurde, war Helmut Kohl gerade Kanzler geworden. Aber das war für uns „drüben“ ziemlich egal. In unserer Staatsführung änderte sich nichts, und die Kasernen schlossen uns derart von der Welt ab, daß es einer Grunderfahrung Knast gleichkam. Zwölfmannbude, sechs Doppelstockbetten, Fenster zum Appellplatz. Nachts die Unterwäsche als Päckchen auf den ausgerichteten Schemeln, darunter gefechtsbereit die geputzten Stiefel, darin die Socken. Wir erlebten, daß die DDR mindestens militärisch einer Karikatur Preußens entsprach – am eindrucksvollsten hinsichtlich des Tons auf dem Kompanieflur.

Wegen des „NATO-Doppelbeschlusses“, also der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen, maßgeblich auf Drängen der Schmidt-Regierung 1979 durchgesetzt, trainierten wir permanent Alarme mit stark verkürzten x-Zeiten, weil die Pershings aus Schwäbisch Gmünd und die Cruise Missiles vom Hunsrück die Vorwarnzeiten reduzierten, forcierten das Schutztraining und sahen uns einen sowjetischen Lehrfilm über die Folgen des Einsatzes von Atomwaffen an. Darin flogen auf einem Testgelände in der kasachischen Steppe Betonelemente und gepanzerte Fahrzeuge dem Lichtblitz hinterher, dann wurden verstrahlte Schafe gezeigt, die erst in Fetzen ihr Wollkleid verloren und dann elend verreckten. Wir hatten unsere Dosimeter täglich umgebunden.

Als Breschnew starb, hieß es: Ganze Abteilung – kehrt!

Und wußten, die Welt war nervös: Die Sowjetarmee stand seit Weihnachten 1979 in Afghanistan, Polen war mit dem Papst, Wa??sa und Solidarno?? auf Abdrift; während wir in der Aula unsere Prüfungen geschrieben hatten, führten die Briten Krieg um die Falklands, Israel jagte die PLO im ersten Libanonkrieg, und wirtschaftlich und staatsfinanziell spürte man bei uns eher die Risse, als daß man sie schon sah.

Es hieß, wir hätten uns auf „die letzte Klassenschlacht unter den Bedingungen eines thermo-nuklearen Krieges“ vorzubereiten, also auf eine apokalyptische Vorstellung, die letztlich diesen Krieg wohl verhinderte, aber das Ende unseres „sozialistischen Vaterlandes“ forcierte. Tatsächlich stellte sich spätestens seit Reagan der Warschauer Vertrag auf einen Angriff ein. Fanden im Westen die Herbstmanöver „Autumn Forge“ statt, gruben wir uns östlich der Elbe schon mal „freundwärts“ ein, „um den Schlag auf uns zu nehmen und den Gegner dann auf seinem eigenen Territorium zu vernichten“. Andauernd Feldlager, alle Dutzend Wochen ein Kurzurlaub von Freitag nach Dienst bis Dienstag zum Dienst, einschließlich aller Reichsbahnzeiten.

Noch in der Grundausbildung zur Gefechtsausbildung angetreten, standen wir Anfang November in der Naßkälte auf dem Appellplatz, wurden gerade vom Hauptfeldwebel auf saubere Kragenbinde, Haarschnitt und Ausrüstungsgegenstände kontrolliert und waren abmarschbereit. Plötzlich eine jähe, irritierende Unterbrechung: Ganze Abteilung – kehrt! Hochrücken! Waffenabgabe! Einrücken in den Fernsehraum in Dienstuniform. Mit betroffener Miene teilte uns dort der Politoffizier mit, daß „der Generalsekretär des ZK der KPdSU und Vorsitzende des Obersten Sowjets der UdSSR, unser verehrter Genosse Leonid Breschnew“, verstorben sei und wir „in unverbrüchlicher Freundschaft mit den Völkern der Sowjetunion sowie gemeinsam mit allen friedliebenden Völkern der Welt“ um ihn trauern würden. Die UdSSR hatte für uns Breschnews Gesicht. Als er 1964 Chruschtschow entmachtete, wurden wir gerade geboren.

Ein ruhiges Defilee, das uns einschloß und wärmte

Wir durften uns nach einer Schweigeminute setzen. Der Fernseher wurde eingeschaltet: Da lag der „große Tote“ im Anzug mit seinen Leninorden im Gewerkschaftshaus am Moskauer Karl-Marx-Prospekt aufgebahrt, davor die Totenwache mit gefrorenen Gesichtern, und es erklang der Trauermarsch von Chopin. Was für eine Wohligkeit. Wir drückten uns an die summenden Heizungsrohre, manche kritzelten schnell einen Brief, Kassiber ins draußen liegengebliebene Leben.

Wir streckten uns wie die Kater am Ofen aus, ließen die Glieder knacken und hofften, der Politikoffizier vorn hatte den Befehl, bloß die Glotze schön laufen zu lassen, und die Schlange der trauernden Sowjetbürger risse mindestens diesen Vormittag nicht ab, ein ruhiges Defilee, das uns einschloß und wärmte, im ersten von drei Armeewintern, sieben Jahre vorm Ende des großen Dienstes, während auf dem Schießplatz heute schon mal über alle Bahnen die weite Stille sich dehnte.

Diesen Herbst genau dreißig Jahre. Und wir wußten nicht: Das war vielleicht der Anfang vom Ende des Kalten Krieges, in den wir hineingeboren waren.

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