Daß bei „buntem Protest“ die Farben Grau und Schwarz dominieren – das graue Einerlei des Polit-Establishments und das Schwarz der von diesem zuweilen geduldeten Schlägerbanden –, ist hinlänglich bekannt.
Weniger bekannt ist allerdings, wie „bunt“ diejenigen sein können, die ihrem Lebensgefühl durch bevorzugtes Tragen schwarzer Kleidung Ausdruck verleihen – gemeint ist damit natürlich nicht die ideologisch formierte, teilweise paramilitärisch auftretende „Antifa“, deren Erscheinungsbild nicht zufällig an die Kampftruppen totalitärer Parteien erinnert, sondern die ausgesprochen friedfertige „Schwarze Szene“. Nannte man sie früher aufgrund ihrer ästhetischen Adaption der Vampir- und sonstigen Schauertradition „Gothics“ oder „Grufties“, so ist die Buntheit mittlerweile so groß, daß gerade die Schwärze noch die einzige Klammer liefert.
Und selbst diese Begriffskrücke paßt kaum zu den zahlreichen jungen Frauen, die auch beim diesjährigen „Wave-Gotik-Treffen“ (WGT) über Pfingsten in Leipzig ihre üppigen, manchmal in monatelanger Handarbeit selbst hergestellten Kleider im viktorianischen Stil zur Schau stellten. Ebensowenig zu den „Cyber-Gothics“, deren Plastikverkleidung und neonbunte Haarteile eher an die Techno-Szene erinnern, oder zur „Mettrinker-Fraktion“, den Freunden eines mehr oder weniger frei interpretierten Mittelalters, die gerne Schottenröcke tragen – und große, dicke Trinkhörner möglicherweise als phallische Statussymbole ansehen.
Gothic Pop wird Mainstream-Musik
Entsprechend vielseitig und kaum unter dem sich allenfalls anbietenden Begriff „düster“ zu fassen, ist auch das musikalische Angebot, das noch mehr als die Kleidung den Fundus zur Identitätskonstruktion bereitstellt: eingängiger Gothic Pop, der in seiner schlagerartigen Variante (etwa bei „Unheilig“) mittlerweile Teil des Mainstream-Geschmacks geworden ist, folgt auf brachialen „Industrial“.
Eine Post-Punk-Band wie die 1979 gegründete britische Kultformation „Killing Joke“ durchdonnert die Agra-Hallen unter dem frenetischen Jubel des gleichen, in schwarze, schnallenbesetzte Gewänder, Rüschenhemden, Lederkorsagen, „Overknee-Stiefel“, Gehrock und Zylinder gekleideten Publikums, das im Centraltheater oder in einer der Leipziger Kirchen andächtig neoklassischen Klängen, Neuinterpretationen von Renaissance- und Barockmusik, lauscht, sich in der Krypta des Völkerschlachtdenkmals zu melancholischen Neofolk-Gitarrenklängen wiegt, von martialischem „Military Pop“ Schauer den verschwitzten, tätowierten Rücken hinunterjagen läßt und im „Heidnischen Dorf“ zu schalmeienbegleiteten Minneliedern, Sackpfeifenschall und Trommelrhythmen tanzt oder in Wikinger-Fellstiefeln stapft.
Zwischen Hochkultur und Plüschhandschellen-Trash
Hochkultur, etwa ambitioniert vorgetragene Lesungen von Dichtern der Décadence und „Schwarzen Romantik“, trifft auf den Latex- und Plüschhandschellen-Trash, dessen Gummi-Schulmädchenuniformen, Krankenschwesterkittel oder Matrosenleibchen – bei solchen muß ich immer an Guido Westerwelle denken – längst Bestandteile einer allgemeinen Abendgarderobe sind, die man eben anlegt, wenn man entsprechend „ausgeht“: auf dem WGT insbesondere zum „Obsession Bizarr Fetischtreffen“.
Dort hat fast schon ein bißchen die „staatliche Buntheit“ Einzug gehalten; jedenfalls wurde, laut Programm, „ein strikter Gewandungskodex verfügt“. Wer etwa nur aus touristischer Neugier, Voyeurismus oder – wie ich – „aus wissenschaftlichem Interesse“ Einlaß begehrte, scheiterte nach stundenlangem Schlangestehen an der Gnadenlosigkeit des Türstehers.
Wo alles relativ ist, ist noch längst nicht alles erlaubt
Immerhin nahm ich zwei gewichtige Erkenntnisse mit: Erstens kann ein schwarzer Herrenrock, mit dem ich bei konservativen Tagungen und Vorträgen nicht nur die vier bis sechs Augen der Damenwelt auf mich zöge, in einem anderen Rahmen verdammt spießig und betulich wirken; und zweitens folgt aus der Lehre, daß „alles relativ“ ist, noch lange nicht, daß auch „alles erlaubt“ wäre: Gerade dort, wo man besondere Freizügigkeit betont, kann ein striktes Reglement herrschen – man denke an Übliches wie die eifernd exerzierten Sprachregelungen von Gender-Aktivisten oder an eher Abseitiges wie den „Swingerclub-Knigge“ von Iris Bücker oder Arne Hoffmanns hilfreiches Handbuch „Orgien für Anfänger“.
Ansonsten herrscht beim WGT aber doch das Prinzip „Anything goes“. Das einstige Szenetreffen ist längst ein großes Volksfest, bei dem jeder mitmachen kann. Und doch fällt eines ins Auge: Es ist ein Fest der europäischen oder – angesichts der Teilnehmer mit ostasiatischen Wurzeln –, der von europäischer Kultur geprägten Jugend. Gäste mit orientalischem oder afrikanischem Hintergrund sind nicht anzutreffen.
Vielleicht liegt in diesem europäischen Bezug auch die Klammer zwischen schwarzer Romantik, schwarzer Magie und schwarzem Latex?