Vor einem halben Jahrzehnt bedauerte der amerikanische Schriftsteller John Updike (1932-2009) in einem TV-Interview, die heutige Jugend tue ihm leid. Mittels ökonomischer Angstszenarien zwinge man sie zum radikalen Konformismus, sabotiere jede Suche nach einem adäquaten Lebensweg. Wer diese Angstspirale stoppen wolle, dem werde entgegnet: Bist du wahnsinnig?! Wir müssen dafür sorgen, daß die Deutschen uns nicht unterkriegen!…Man ist sprachlos:
Die US-Jugend wird tatsächlich mit dem Drohbild eines wirtschaftlich hochpotenten Deutschlands in den Konformismus gepeitscht? Zu einer Zeit, als man hierzulande bereits mit der Version eines „erstarkten Chinas” für Grusel sorgte? Offenbar sind wirtschaftliche Anreize nicht allzu überzeugend, Angst muß mangelnder Attraktivität zu Hilfe eilen.
Fast zeitgleich mit dem Updike-Interview erschien das Buch „Der China Code. Wie das boomende Reich der Mitte Deutschland verändert” (2005), Autor war Frank Sieren, China-Korrespondent der „Wirtschaftswoche”. Sein Werk bot eine ökonomische Geisterbahnfahrt, an jeder Ecke hob der China-Drache bedrohlich das Haupt.
China – Motor der Weltwirtschaft?
Da wird das Reich der Mitte zum Motor der Weltwirtschaft erhoben, das sich, trotz schlimmer Sozialprobleme, zum perfekten „Global Player” gemausert habe. Im Gegensatz dazu stehe (natürlich!) das ewiggestrige Deutschland, das immer noch nach traditionellem Kapitalismus funktioniere. Überhaupt deutscher Traditionalismus: Um den zu vergraulen, kreiert Sieren die Negativutopie vom nostalgischen Freizeitpark „Deutschland”, als künftigem Urlaubsziel erholungsbedürftiger Chinesen. Um das abzuwenden, fordert mehr Zentralismus (anstelle von Föderalismus), ein elastisch-weltoffenes Wir-Gefühl und die – wohl absichtlich nicht konkret gehaltene – Angleichung an globale Wirtschaft.
Zugegeben, die neue Weltordnung sei nicht gerecht, unberechenbar, aber leider „alternativlos”. Frank Sierens Schmöker kam gut an, weitere Bücher folgten, etwa Wolfgang Hirns „Herausforderung China” (2006), oder „Nachbar China – Helmut Schmidt im Gespräch mit Frank Sieren” (2007) und (wieder von Sieren) „?Der China-Schock: Wie Peking sich die Welt gefügig macht” (2010), unzählige Medienberichte nicht mitgerechnet. Sierens Bild von China als drohender Konkurrenten oder, in liberaler Euphemie, als große „Herausforderung” hat sich bis heute gehalten. Mehr als ein Politiker hat schon versucht, sich darauf zu berufen. „?Man müsse endlich die „Herausfordung durch China anerkennen“ fleht die „Bundeszentrale für politische Bildung”. Denn „während in den USA, Japan und Australien seit Jahren eine breite Diskussion über die Herausforderungen und Chancen, die mit dem Aufstieg Chinas verbunden sind, geführt wird, fehlt diese in Deutschland und Europa weitgehend.“ Wer so redet, verwischt freilich die Grenzen zwischen Regierung und Volk, fragt nicht, ob das „Wir”-Gefühl im Reich der Mitte tatsächlich vorhanden oder nur Produkt von Propaganda ist. Dessen Alltag besteht aus Millionen geplünderten Wanderarbeiten, zerrütteten Bürokräften, die buchstäblich aus dem Fenster springen, industriellen Niedrigstlöhnen, usw.
Elend im postmaoistischen Terrorapparat
Immerhin: Wer die Entwicklung chinesischer Kunst der letzten 20 Jahre verfolgt, bemerkt in der Malerei sarkastisches und expressiv schreiendes Aufzeigen gesellschaftlicher Brüche. Ebenso in kritischen Filmen (beispielsweise von ?Zhang Yimou), die weltweit Festivalpreise abräumen, aber in China selbst nicht gezeigt werden. Von Literatur und Blogs ganz zu schweigen. Da offenbart sich das Elend im postmaoistischen Terrorapparat, der wirtschaftsliberale Morgenluft schnuppert.
Da zeigt sich: Sozialismus und entfesselter Kapitalismus haben – wie alle Totalitarismen – erstaunliche Ähnlichkeiten in der Struktur: Radikaler Zwang zur Anpassung plus Traditionszerstörung. Wer also, wie Siering, ein Konkurrieren mit chinesischer Wirtschaftskraft fordert, verlangt vom Volk in etwas einzuwilligen, was chinesische Bürger nur unter Zwang tun: sich preiswert ausbeuten zu lassen, die Spannung zwischen Arm und Reich bis ins Absurde zu dehnen, Tradition und feste Bindungsstrukturen aufzugeben. Wie solcher Druck die Psyche destruiert, darüber berichtete jüngst eine 20jährige Praktikantin aus Berlin, die sich drei Monate in Shanghai aufhielt. Die gespenstische soziale Kälte dieser Metropole, ihrer Bewohner auf den Straßen, erfüllte sie mit Angst. Als man sie wegen versäumter Visaverlängerung stundenlang im Polzeirevier traktierte, begann sie zu weinen. Die Polizeibeamten, an emotionales „Zusammenreißen” gewöhnt, waren restlos irritiert. In einer Mischung aus Hilflosigkeit und Aggression schrieen sie „Stop it! Stop it! Stop it!”
Übermaß an Prophylaxe
Dennoch, solch emotionale Abdichtung kann schnell bersten. So geschehen in den arabischen Staaten Tunesien, Ägypten und Libyen. Deren Aufstände der Jugend für Arbeit und Freiheit haben hohe Inspirationskraft. Die fürchten Pekings Politiker derart, daß sie selbst bei kleinsten Protestaufrufen die halbe Armee auffahren, auf dem „?Nationalen Volkskongreß” die Selbstbewußten spielen, Aufständische für „lächerlich” erklären. Oder das aggressive Vorgehen gegen ausländische Journalisten oder die versprochenen Reförmchen sind deutliche Indikatoren großer Angst. Vielleicht wird gerade dieses Übermaß an Prophylaxe den gefürchteten Aufstand erst herbeiführen? Es wäre zu wünschen, daß dieses Volk sich maßvollen Wohlstand erwirtschaftet, und nicht für Wettbewerbsphantasien einer Minderheit verheizt wird.
Das täte auch dem Westen gut, stürzte dessen aktuelles Gruselbild zur Antreibung hiesiger Bevölkerung. Eine Funktion, die Japan übrigens in den Achtzigern und frühen Neunzigern inne hatte. Natürlich wird sich auch für China ein „Nachfolger” finden. Vielleicht ein südamerikanischer Staat, dessen „Herausforderung” man dann nicht widerstehen darf? Island und das asiatische Bhutan sind bereits aus dem globalen Wettbewerbskarussell ausgestiegen. Vielleicht bilden sie eine Avantgarde, der andere folgen werden?
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