Erstaunlicherweise war gerade das zwanzigste Jahrhundert ein Jahrhundert des Wunders und der Heiligkeit – jedenfalls wenn man dafür die Zahl der Heilig- und Seligsprechungen, zu deren Voraussetzungen mindestens ein durch den Kandidaten gewirktes Wunder gehört, als Indikator nimmt: Allein während des Pontifikats Johannes Pauls II. (1978 bis 2005) wurden 1820 Wunder (482 von Heiligen und 1338 von Seligen) anerkannt; der gesamte Zeitraum vom Beginn des Verfahrens 1588 bis 1978 brachte es nur auf 302 Heiligsprechungen, wie Jürgen Kaube in seiner Rezension des Sammelbandes „Wunder – Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert“ von Alexander Geppert und Till Kössler mitteilt (FAZ online vom 23. April 2011).
Mehr als achtzig Prozent aller Heiligsprechungen erfolgte im zwanzigsten Jahrhundert; über die Hälfte dieser „neuen Heiligen“ stammt überraschenderweise aus dem wenig christlich geprägten Ostasien – China, Korea und Vietnam –, erst danach folgen traditionell katholische Länder wie Italien und Spanien, Polen oder Mexiko.
Inflationäre Produktion von Heiligen
„Was Gott bewegt hat, gerade in diesem Zeitabschnitt und in diesen Regionen mit Wundern nicht zu geizen, darüber kann nur spekuliert werden“, merkt Kaube ein wenig süffisant an und zieht eine Parallele von den in der Nachkriegszeit besonders häufigen Marienerscheinungen zum Wirtschaftswunder – der Soziologe Rudolf Stichweh vergleicht die „Produktion von Heiligen“ sogar mit der „inflationären Versorgung von Wirtschaft mit Geld“ und entwirft in diesem Zusammenhang eine „allgemeine Theorie der Funktionssystemkrise“.
Freilich hinken diese systemtheoretischen – in der Sache recht marxistischen – Vergleiche selbst dann ziemlich, wenn man sich, zwecks überprüfenden Nach-Denkens, auf das ihnen zugrundeliegende ökonomische Modell einläßt: Die katholische Kirche erscheint dann zwar als eine Institution, die ihren Gläubigen Dienstleistungen erbringt, indem sie Lebenssinn stiftet und metaphysische Tröstung spendet, aber die Heiligen sind in diesem System wohl kaum eine „Währung“, sondern ein Teilaspekt oder Ausdruck der Sinnstiftung, die von den Gläubigen – eher im Sinne eines Tauschgeschäftes – mit Glauben sowie aus diesem resultierenden materiellen Zuwendungen (Spenden, Kirchensteuern) „bezahlt“ wird.
Wunder brauchen Kausalgefüge
Unabhängig von diesem allzu schlichten Schematismus ist die „Konjunktur“ des Wunders in der wissenschaftsgläubigen Moderne verwunderlich, ja fast schon selbst ein Wunder. Einerseits wäre zu erwarten, daß der Wunderglaube im Zuge des neuzeitlichen Rationalisierungsprozesses abgenommen hätte, andererseits setzt der Begriff des Wunders die Anerkennung von Naturgesetzen, das Prinzip einer durchgängigen, empirisch nachvollziehbaren Kausalkette, die durch das Wunder durchbrochen wird, überhaupt erst voraus.
Insofern ist es doch „kein Wunder“, daß die Neigung, die Welt als Kausalgefüge zu sehen, den Glauben an das Wunder befördert, denn dieser nimmt in dem Maße zu, in dem der forschende Verstand an immer neue Grenzen stößt, die er unter vorwissenschaftlich-archaischen Bedingungen gar nicht wahrnehmen konnte. Als noch alles ein einziges, großes Wunder war, das den Menschen zum Staunen über das Sein überhaupt anregte – hierin liegt nach Aristoteles bekanntlich der Ursprung der Philosophie –, trat das einzelne, „kleine Wunder“, das hier und da eine Kausalkette durchbricht, noch gar nicht in das Gesichtsfeld.
Rationalisierung und Reduzierung Gottes
Diese Haltung des mythischen Menschen wiederholt sich auf rationalisierter Stufe im Pantheismus der Aufklärung, die das Wunder für überflüssigen Aberglauben erklärte, da Gott allein in den Naturgesetzen wirke; der nächste Schritt war dann freilich, einen solchen, lediglich auf eine reine Gesetzlichkeit reduzierten Gott selbst als überflüssig anzusehen.
Weder in einer völlig irrationalen noch in einer gänzlich durchrationalisierten Welt hat das Wunder seinen Platz, sondern nur in der Durchdringung beider, in der es gleichsam die Schnittstellen und Übergänge besetzt, die sich mit dem Forschungsprozeß immer wieder verschieben. Hatte der „Paradoxograph“ Phlegon von Tralles im zweiten Jahrhundert zahlreiche mittlerweile erklärbare Erscheinungen unserer Lebenswelt wie Hermaphroditismus oder Mißgeburten aller Art als Wunder verzeichnet, so drängt sich heute das „Wunderbare“ vor allem im unendlich Kleinen oder Großen, in Quanten- und Astrophysik auf.
Auch wenn Gott „tot“ ist, wird es in Zukunft noch Wunder geben: das große, philosophische, daß „überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts“ (Heidegger), und die zahllosen „kleinen“, gleichsam theologischen Wunder, die dort aufscheinen, wo sich das alle menschlichen Maße transzendierende Sein „als Ganzes“ dem Forschungsdrang immer aufs Neue entzieht.