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Generation Potter

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Ohne Zweifel: Joanne K. Rowlings Siebenbänder „Harry Potter“ kann als ein Lebenswerk und als veritabler Beitrag zur Weltliteratur gelten. Nicht nur, daß die Geschichte sehr spannend und höchst genau durchkomponiert ist, sie thematisiert als Opus Magnum den Kampf des Guten und mit dem Bösen und schließt die Ambivalenz beider Seiten in einer Weise auf, die an älteste Menschheitsmythen durchaus anknüpfen läßt.

Daß dies zeitgemäß und psychologisch sehr einfühlsam geschieht, erschloß dem Werk ein Millionenpublikum und prägte entscheidend eine heranwachsende Generation. Nicht wenige werden dabei dicke Bücher zu lesen gelernt, noch mehr freilich nur Popcorn gefuttert haben. Die Dualität der phantastischen Zaubererwelt und des tristen Muggledaseins erschien dem Lesepublikum so eingängig und plausibel, daß Kirche und Anthroposophie schon Konkurrenz in den Hoheitsrechten über geistige Welten fürchteten und vor populäresoterischer Häresie warnten. 

Daran, daß junge Leser die Sehnsucht nach dem Phantastischen ergreift, ist nichts Bedenkliches. Früher wollte man auch lieber mit Tom Sawyer und Huckleberry Finn auf einem Floß den Mississippi heruntertreiben als nur in einer Geographiestunde die Amerika-Karte anzustarren, und Jules Verne war weit spannender als Physik.

Abenteuer dürfen nur noch an Bildschirmen stattfinden

Rowlings Klassiker ist gerade nicht trivial, unter anderem weil er echte Tragik einschließt und sehr differenzierte Charaktere zeichnet. Er wird allerdings begleitet von einer ganzen Schwemme seichter Schmöker, die epigonal ohne Archetypen auskommen und nur einen billig-bunten Reigen von Drachen, Feen und platten Kinderhelden aufbieten.

Derlei Kitsch beansprucht für sich, besonders kreativ, also schöpferisch, zu sein, nur weil eine locker daherfabulierte Fantasy-Soap aneinander gestrickt wird. Wenngleich es sich dabei oft um Papierverschwendung handelt, an der die reißerisch comichafte Einbandgestaltung noch das künstlerisch Aufwendigste ist, bleibt zu fragen, welches Bedürfnis damit bedient wird. 

Kinder haben gerade nicht mit allzu vielen Abenteuern zu rechnen und bleiben so auf das Reich der Imagination hinter der 3-D-Brille angewiesen. Sie werden gegenwärtig auf Autorücksitzen groß und durch ihren Terminkalender gekutscht. Jahrelang fahren sie dabei quasi Panzer, weil sie, eingeschnallt in den TÜV-geprüften Sicherheitssitz, nicht mal aus dem Fenster sehen können.

Das Prinzip Sicherheit begleitet sie auf eine Weise weiter, daß sie aus der Welt da draußen weitgehend herausgehalten werden, denn dort lauern nach Auffassung von Elternhaus und Schule viel mehr Gefahren als für Harry Potter in Hogwarts. Deswegen will alles sehr gut versichert und minutiös durchorganisiert sein. Abenteuer dürfen nur noch an Bildschirmen und auf Leinwänden stattfinden oder im Rahmen von „Events“, von denen der eigene Geburtstag gleich mal das wichtigste ist, idealerweise ausgerichtet von einer darauf spezialisierten Agentur. 

Reizüberflutende Bildwelten

Wo das eigentliche Leben und die ursprüngliche Natur nur noch als ein Terrain von Allergieauslösung und Überforderungsgefahr gelten, gibt es keine prägende Kindheit mehr. Die eingängigen, reizüberflutenden Bildwelten des sogenannten Medienzeitalters gefährden das sich entwickelnde Bewußtsein weit mehr als der grelle Plastikkram der Siebziger, weil sie so simpel wie passiv zu rezipieren sind. Kaum etwas daran fordert heraus, vieles macht aber legasthenisch und adipös.

Aber auch im künstlich isolierenden Thermossystem von Ganztagsschule und vermeintlich kindgerechter Erziehung müssen die Phantasmen ins Kraut schießen, wenn sich im Bewußtsein überhaupt etwas bewegen soll. „Projekte“ sind eben keine Erlebnisse, sondern Aktionen hinter Glas. Allein baden zu fahren, mit dem Fahrrad auf Entdeckungssuche zu gehen, sich kribbelnden Mutproben beim Klettern oder beim Sprung vom Schuppendach auszusetzen – pädagogisch wie rechtlich längst nicht mehr zu verantworten. 

Darf man noch großväterlich erzählen, daß wir dreizehnjährig an alten Mopeds schraubten, um sie soweit hinzubekommen, daß man auf Waldwegen knatternde Schwarzfahrten unternehmen konnte, daß wir ausnehmend gern auf Müllkuhlen unterwegs waren, weil man dort die tollsten Dinge fand, daß wir im alten Park aus langen Keilriemen eine Luftschaukel an einen hohen Eichenast banden, mit der man sich, von einem Hang Anlauf nehmend und dabei auf einem Knüppelsitz springend, so weit emporschwingen konnte, daß unmittelbare Lebensgefahr bestanden hätte, wenn die Riemen gerissen wären? Aber es riß ja nichts, und das ganze Dorf stand da plötzlich an, sogar Erwachsene. Niemand fragte, wie wir das Ding so weit oben überhaupt halsbrecherisch vertäuen konnten. 

Es fehlt das Echte

Beim Kindergeburtstag gab es Kartoffelsalat und Bockwurst, und wurden wir rammdösig, flogen wir raus. Ab in den Wald oder zum Fluß! Dafür waren die Abenteuer, die dann sogleich einsetzten, nicht virtuell, sondern echt. Wo Erlebnisse nur noch digital generiert werden, kann von er-leben gerade nicht mehr die Rede sein, höchstens von Vorstellungen, die nach immer intensiveren Effekten und beschleunigter Animation verlangen.

Aber so perfekt dabei auch inszeniert wird, fehlt doch immer noch das Echte, der wirkliche Stolz auf eine Bewährung, die übernommene Verantwortung für andere, die richtige Freundschaft, die tatsächliche Gefahr und das wohlige Gefühl, ihr entronnen und wieder geborgen zu sein. 

Stagnationszeitalter liebten immer in besonderer Weise den Schauerroman und die Gruselromantik. Sie sehnten sich nach anregendem Nervenkitzel. Auch das ließe Deutungen zu.

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