Trotz der Verbindung von Zeit und Raum zu einem vierdimensionalen Kontinuum in der Relativitätstheorie blieb die Zeit die weitaus beliebtere Kategorie in der Philosophie der Moderne. Ihre „Beweglichkeit“ entsprach eher der modernen Erfahrung existenzieller Veränderlichkeit als dem Raum, dem die antike Philosophie und Kosmologie eine so große Bedeutung zugemessen hatten. Das galt auch in philosophischen Konzepten, die dem materialistischen Fortschrittsdenken Theorien der organischen Entwicklung entgegensetzten. Zudem wurde sie als die übergeordnete Kategorie angesehen, wenn sie Kant in seiner ‚Kritik der reinen Vernunft’ als Anschauungsform des inneren wie des äußeren Sinnes, den Raum hingegen nur als solche der Außenwelt analysierte (und beide bekanntlich von der Welt der Dinge an sich ablöste).
Während der Reduktion der erlebten Zeitlichkeit auf ihre Meßbarkeit, wie sie Kant und seine empiristischen Gegner gleichermaßen vollzogen, die lebens- und existenzphilosophische Technikkritik des 20. Jahrhunderts trotz aller Schärfe kaum etwas anhaben konnte, ist die Philosophie nach 1945 von einem regelrechten „Raumexorzismus“ (Reinhard Falter) gekennzeichnet, der sich sowohl gegen – angeblich durch den Nationalsozialismus diskreditiertes – geopolitisches Großraumdenken als auch gegen den als „reaktionär“ denunzierten Heimatbegriff richtete.
Topologische Wende seit den 1980er Jahren
Seit den 1980er Jahren aber läßt sich ein Paradigmenwechsel beobachten, den man mit den Begriffen „spatial turn“ oder „topologische Wende“ umschrieben hat. Zuweilen werden diese synonym gebraucht, oft aber in dem Sinne unterschieden, daß ersterer den Oberbegriff (oder auch die natur- und sozialwissenschaftlichen Aspekte), letzterer die philosophischen Spezifikationen bezeichnet.
Galt bis vor kurzem ein Denken in Räumen und Orten – also qualitativ bestimmten „Raumteilen“, die sich gerade nicht teilen lassen, weil sie dadurch ihr jeweiliges Wesen einbüßen – als „ungehörig“, und tauchte der Raum nur als Migrations- bzw. Transgressionsmedium auf, durch das willkürliche, machtpolitische Grenzen gezogen werden, so wird er von Autoren wie dem Münchner Philosophen Reinhard Falter, der vor einigen Jahren unter dem Titel ,Natur prägt Kultur’ eine monumentale „Geschichte der Geophilosophie“ vorlegte, oder dem Basler Schriftsteller Volker Mohr ideologisch unbefangen in den Blick genommen: Soeben erschien in der Edition Antaios dessen Kaplakenbändchen über den „Verlust des Ortes“.
Suche nach dem Ort im eigenen Herzen
Ist Falters „Archäologie der Globalisierungskritik“ trotz des enzyklopädischen Zugriffs auf die Geistesgeschichte auch eine politische Streitschrift, die zu fundamentaler – man kann auch sagen: revolutionärer – Umkehr auffordert, so sucht Mohr vor allem nach dem „Ort im eigenen Herzen“, von dem aus sich die „Entortung“ des modernen Menschen, seine Funktionalisierung zum „flexiblen“, sich überall zur Ausbeutung bereitstellenden Arbeitsplatznomaden korrigieren läßt.
Der Rückgang auf das eigene Ich, der Rekurs auf Ernst Jüngers Figur des Waldgängers zeigen, daß es Mohr um eine Selbst-Verortung geht, die wenig mit modischer neuer „Landlust“ und erst recht nichts mit staatlicher Förderung „strukturschwacher Regionen“ zu tun hat – schließlich kann man auch auf dem Land wurzellos leben und sich, statt in realen Räumen, durch die virtuellen Welten des Internet bewegen, während die Großstadt durch phantasievolle Veränderungen im Kleinen und manchmal erst durch ihren Verfall so etwas wie ein Gesicht (zurück-)gewinnt.
Abkehr von der Seßhaftigkeit
Überhaupt erscheint, wenn wir hier etwas weiterdenken, gar nicht so sehr der in der Gegenüberstellung von Zeit und Raum vermeintlich anklingende Gegensatz von Bewegung und Ruhe als wesentlich. Entscheidend ist vielmehr, wie man sich bewegt: Falter betrachtet Bewegungsarten wie Fliegen, Surfen und rasendes Fahren, die durch möglichst wenig Bodenhaftung gekennzeichnet sind, als die vom „manischen Menschen“ der Gegenwart bevorzugten.
Mit Mohr kann man annehmen, daß sich derjenige, der seinen Ort im Herzen trägt, also innerlich zentriert ist, an jedem Ort in der diesem angemessenen Weise einzuleben vermag, anstatt umgekehrt den Ort nur seinen vermeintlichen Bedürfnissen anzupassen. Selbst der archaische Nomade war im Gegensatz zum heutigen Arbeitsplatznomaden durchaus an die Beschaffenheit der ihn umgebenden Landschaft gebunden und von ihr abhängig, auch wenn er diese häufiger wechselte als der seßhafte Mensch bäuerlicher Kulturen.