Im Fall von Kindesentführung ist den meisten Menschen wohl jedes Mittel recht, um das Opfer lebend zu finden. Dazu dürfte für viele auch die Androhung von Folter gehören – vor allem wenn es lediglich beim Androhen bleibt. Hauptsache das Kind wird gerettet.
Doch Gerechtigkeitsempfinden und geltendes Recht decken sich bekanntlich nicht immer. Was dazu führt, daß gewiefte und skrupellose Verbrecher die Gesetzeslage in einem Rechtsstaat durchaus für sich zu nutzen wissen.
Zu diesen zählt auch Magnus Gäfgen, der 2002 den elfjährigen Bankierssohn Jakob von Metzler in seine Wohnung lockte, erstickte und seine Leiche in einen Tümpel warf. Während die Eltern davon ausgingen, daß Jakob noch am Leben sei und das geforderte Lösegeld bezahlten, war der Junge bereits tot.
Nach dem Gäfgen festgenommen wurde und auch am vierten Tag der Entführung beim Polizeiverhör das Versteck seines Opfers nicht preisgeben wollte, handelte der damalige Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner und entschloß sich – da auch er davon ausging, daß Jakob noch lebte – zu einer drastischen Maßnahme.
Er ordnete an, durch „massive“ Gewaltandrohung eine Aussage Gäfgens zu erzwingen – mit Erfolg. Gäfgen gab daraufhin den Ort an, wo er die Leiche versteckt hatte. Für die Gewaltandrohung mußte sich Daschner später vor Gericht verantworten.
Der Täter als Opfer
Doch als ob es nicht schon bitter genug wäre, daß die Beamten dafür bestraft wurden, alles in ihrer Macht getan zu haben, um das Leben eines elfjährigen Jungen zu retten, verklagte der rechtskräftig verurteilter Kindsmörder Magnus Gäfgen das Land Hessen auch noch auf Entschädigung und Schmerzensgeld – mit Erfolg. Am Donnerstag wurden ihm 3.000 Euro Entschädigung zugesprochen, weil seine Menschenwürde durch die Folterdrohungen verletzt worden sei. Seine Forderung nach Schmerzensgeld lehnte das Gericht dagegen ab.
Gäfgen begründete seine Klage mit einer angeblichen Traumatisierung, unter der er durch das Vorgehen der Polizei leide. Wegen den Folterdrohungen kämpfe er bis heute mit schweren psychischen Folgen wie Angstphobien, Schlafstörungen und Albträumen, weshalb er auch psychologischer Behandlung bedürfe. Ein Gutachter konnte allerdings nicht eindeutig beweisen, ob Gäfgens Probleme durch die Folterdrohungen entstanden sind.
Dennoch, so der Vorsitzende Richter Christoph Hefter in der Urteilsbegründung, dürfe auch einem Straftäter das Recht auf Achtung seiner Würde nicht abgesprochen werden, „mag er sich auch in noch so schwerer und unerträglicher Weise gegen die Werteordnung der Verfassung vergangen haben“. Es sei „gänzlich unerheblich und darf schlechthin nicht berücksichtigt werden, daß der Kläger zuvor eine Straftat begangen hat“. Zweifellos hätten die Beamten des Landes die Menschenwürde Gäfgens „in eklatanter Weise schuldhaft verletzt“.
Verfügt ein Kindermörder noch über Menschenwürde?
Doch was folgt aus dem Urteil? Statt den Fall Gäfgen als mahnendes Beispiel für die Schwachstellen eines pervertierten Rechtsstaates zu verstehen, und künftig besser auf die Rechte der Opfer zu achten, werden wohl weitere Urteile zu Gunsten der Täter gefällt werden. Schließlich geht es um nicht weniger als die geheiligte Menschenwürde –und die darf bekanntlich niemals verletzt werden. Auch wenn es sich um die „Würde“ eines unmenschlichen und kaltblütigen Kindermörders handelt.
Was aber ist mit der Würde der Opfer und der ihrer Angehörigen? Daß Magnus Gäfgen durch die Folterdrohungen traumatisiert wurde, mag sein. Vielleicht kann er dadurch wenigstens ansatzweise erahnen, welche Ängste sein Opfer in seinen letzten Minuten ausgestanden haben muß und welchen Leiden und Qualen dessen Eltern ausgesetzt waren und sind. Ist das nicht rechtens?
Und wer zahlt eigentlich den Eltern von Jakob ein Schmerzensgeld für den Verlust ihres Kindes und für die Pein, die das jüngste Urteil ihnen nun wieder bereitet haben dürfte? Gäfgen mit Sicherheit nicht.