„Fresse“ ist kein schönes, aber ein gewaltiges Wort. Seine Dynamik entstand durch eine Verschmelzung. Die Vorsilbe „ver-“ vereinigte sich mit dem Tätigkeitswort „essen“. So wurde aus dem ursprünglichen „Veressen“ das kräftigere „Fressen“ – eine Tätigkeit, die wir mit geistlosem Schmatzen und Schlingen verbinden und heutzutage eher den Tieren zuschreiben. Wenn Menschen fressen, benehmen sie sich wie Tiere.
Als Kanzleramtsminister Ronald Pofalla den Parlamentarier Wolfgang Bosbach kürzlich mit den Worten anherrschte, „Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen“, dann würdigte er ihn nicht nur dadurch herab, daß er ihn auf eine Ebene mit Tieren stellte. Wer das Gesicht als „Fresse“ bezeichnet, drückt damit aus, daß sich die Aufgabe des Kopfes allein darauf beschränkt, eine Öffnung für die Nahrungsaufnahme bereitzustellen. Wer lediglich eine „Fresse“ sein eigen nennen kann, ist als Dummkopf anzusehen, der sein Hirn ausgeschaltet hat oder gar keines besitzt, es jedenfalls nicht nutzen kann.
Die „Fresse“ in der Mitte der Gesellschaft
In der Politik war der Ausdruck „Fresse“ bislang seltener bei den Bürgerlichen in Gebrauch, sondern eher bei den Außenseitern. Das Netzlexikon Anarchopedia etwa bietet einen bunten Reigen von Demosprüchen, die nicht ohne dieses Wort auskommen. Der Zitatenschatz reicht von „Kein Vergeben – kein Vergessen, haut den Faschos auf die Fressen“ bis hin zu „Keine Gewalt … sonst gibt’s was auf die Fresse!“
Pofalla hat den Ausdruck „Fresse“ nun in die Mitte der Gesellschaft geholt, dorthin wo sein anderes Lieblingswort – „Scheiße“ – seit langem angekommen ist. Sein Spruch „Wenn ich so eine Scheiße höre wie Gewissensentscheidung“ ist also weitaus weniger originell, wenn wir nur das einzelne Wort betrachten. Der Ausruf „Scheiße“ kursiert nämlich auch in bürgerlichen Kreisen geradezu durchfallartig.
Das Gewissen in der Kanalisation des Reichstags
Statt dessen besteht das Außerordentliche dieses Satzes darin, daß Pofalla das Gewissen, dem Abgeordnete laut Grundgesetz verpflichtet sind, mit Kot gleichsetzt. In Artikel 38 (1) lesen wir: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages … sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“
Ein toller Satz, indes, nun ja, Papier ist geduldig, und wir alle wissen doch längst, daß die Bundestagsfraktionen die Gewissensfreiheit nicht ernstnehmen und sie am liebsten wie „Scheiße“ in die Kanalisation des Reichstags spülen würden. Laut Paragraph 17 der Arbeitsordnung der Unionsfraktion zum Beispiel muß „abweichendes Stimmverhalten“ beim Parlamentarischen Geschäftsführer gemeldet werden, und zwar bis 17 Uhr am Vortag der Abstimmung. Damit unterläuft die Fraktion das Grundgesetz und verschafft sich Gelegenheit, trotzkistische „Abweichler“ bis zur Stimmabgabe gründlich zu bearbeiten. Wer sich diesem Druck nicht aussetzen will, verzichtet lieber gleich auf sein Gewissen.
Unerhörterweise rührte sich bei Bosbach das Gewissen dann aber doch. Da Bosbach sich bisher immer brav an der Fraktion ausgerichtet hatte, mußte der Satz „Ronald, guck bitte mal ins Grundgesetz“ auf den Kanzleramtsminister besonders provozierend und unglaubwürdig wirken. Pofalla geriet derart aus dem Häuschen, daß er das Grundgesetz verfluchte. Da wagte es tatsächlich einer, den Artikel 38 wörtlich zu nehmen.
Cum tacet, consentit
Genau das verlangt jedoch der ehemalige Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier: „Diese Diskrepanz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit muß dringend abgebaut werden.“ Wenn es dann jedoch tatsächlich einer tut, dann wird er von der führenden Machtelite als Störenfried und Spielverderber betrachtet.
Ein solches Verhalten brächte nämlich die eingefahrene Machtausübung der Bundesregierung über den Bundestag ins Wanken. Der Fraktionsvorsitzende Volker Kauder bangt bereits: „Wenn alle reden, die eine von der Fraktion abweichende Meinung haben, dann bricht das System zusammen.“ Aus diesem Grund werden also Bosbach und die anderen „Abweichler“ von Frank Schäffler bis Peter Gauweiler für so gefährlich gehalten: Sie gelten als Systemgegner.
Und was sagte Angela Merkel zum Sprachgebaren ihres Kanzleramtsministers? Nichts. Cum tacet, consentit. Als sie von Pofallas Wutanfall erfuhr, lächelte sie vielleicht so wie damals, als sie Annette Schavan die Kurznachricht von Guttenbergs Rücktritt zeigte. Das Nichtgesagte ist bisweilen eben sogar noch Abstoßender als der ausgesprochene Kraftausdruck.