Wenn der amerikanische Präsident am 18. Februar den Dalai Lama empfängt und die beiden Friedensnobelpreisträger in die Kameras lächeln, wird dies dem tibetischen Volk nicht viel nutzen – für die USA ist es ein symbolischer Hinweis an China, daß man vor dem aufstrebenden Weltmacht-Konkurrenten noch nicht zittern zu müssen glaubt, die Chinesen werden es bei den üblichen Warnungen vor einer Verschlechterung der Beziehungen belassen, und für den nimmermüden tibetischen Mönch ist es einer von unzähligen Anlässen, seine Präsenz auf der Weltbühne zu behaupten. Sicher ist der Besuch auch von seiner Seite aus eine Adresse an die chinesische Regierung, mit der unlängst die Verhandlungen um den Status Tibets wieder aufgenommen wurden, aber daß diese Gespräche mehr bringen werden als die seit Jahrzehnten immer wieder geführten und abgebrochenen, ist kaum zu erwarten.
Sowohl für die Zukunft Tibets als auch für diejenige Chinas werden die Auswirkungen der Globalisierung entscheidend sein: Gelingt es den Tibetern, ihre Identität, die durch „Kulturrevolution“, Umsiedlungspolitik und Zwangsabtreibungen nicht zerstört werden konnte, bis zu einer eventuellen Liberalisierung Chinas zu bewahren? Oder schafft es die chinesische Führung weiterhin zu verhindern, daß die wirtschaftliche Modernisierung und das Internet zu einer Demokratisierung des Vielvölkerstaates – und damit vielleicht zu mehr Unabhängigkeit der auseinanderstrebenden Völker – führen?
Innerliche Deformation des Landes
So festgefahren die Situation erscheint, so wenig ist die Politik des Dalai Lama deshalb gescheitert. Während den Kurden, Tschetschenen oder Basken ihre bewaffneten Kämpfe in der Vergangenheit weder Unabhängigkeit noch großen internationalen Beistand (von muslimischer Unterstützung für die tschetschenischen Glaubensbrüder abgesehen) gebracht haben, konnte die einzigartige tibetische Kultur durch ihre friedliche Internationalisierung gerettet werden; abgesehen von den geringen Erfolgschancen entsprächen terroristische Anschläge auch kaum dem tibetischen Buddhismus und würden somit – parallel zur äußeren Überfremdungspolitik – eine innerliche Deformation des Landes bewirken. War das abgeriegelte alte Tibet vor dem chinesischen Einmarsch 1950 für die Europäer das geheimnisumwobene Land schlechthin und ein mythisches Shangri-La, so ist es heute möglich, tibetischer Buddhist ohne Tibeter zu sein, ähnlich wie man römisch-katholischen Glaubens sein kann, ohne daß es noch ein römisches Imperium gibt.
Konservativen Christen sind der Kult um den Dalai Lama, seine Auftritte bei evangelischen Kirchentagen und mit Politikern aller Couleur, die Vermarktung seiner Bücher auf dem esoterischen Buchmarkt und nicht zuletzt seine Beliebtheit, die die des Papstes bei weitem übersteigt, ein Dorn im Auge; und doch sollten folgende Punkte nicht übersehen werden: Erstens wird die zölibatäre Lebensweise für Geistliche von ihm ebenso gepflegt und gefordert wie in der katholischen Kirche – mit dem Unterschied allerdings, daß ihre Durchhaltung mit Hilfe von Meditations- und anderen Psychotechniken eventuell leichter möglich ist –, zweitens setzt er sich, trotz oder wegen seines Bekenntnisses zur Humanität, für das Selbstbestimmungsrecht der Völker (vor allem natürlich für eine kulturelle Autonomie Tibets) ein, und drittens lehnt er Abtreibung kategorisch ab.
Nichtexistenz eines eigenen Selbst
Christen und Konservative, die in ihm nur den Wohlfühlguru sehen oder religiöse Vielfalt als „Kulturrelativismus“ beklagen, statt in ihr einen Ausdruck abendländischen Freiheitsdenkens zu erkennen, sollten sich fragen, wann sie solche Bekenntnisse zum letzten Mal von Vertretern insbesondere der evangelischen Amtskirche vernommen haben, und auch der linksliberale Mainstream hat meist nur die Teile der Botschaft, die den Sinnsucher auf Kalenderblättern „mit dem Dalai Lama durch das Jahr“ begleiten, zur Kenntnis genommen. Konsequent sind am ehesten Kommunisten, militante Atheisten und „Antifa“-Ideologen, die den „Lamaismus“ ähnlich wütend bekämpfen wie den „Klerikalfaschismus“.
Noch unübersichtlicher wird die Lage indes, wenn man die Sicht asiatischer Buddhisten einbezieht, die den Dalai Lama als „Emanation“ des Chenrezig, des „Buddhas des Mitgefühls“, verehren. Vielleicht ist es gerade ein Ausdruck von „Shunyata“ – der Nichtexistenz eines eigenen Selbst infolge des Zusammenhangs von allem mit allem –, wenn der „einfache tibetische Mönch“, wie er sich gerne nennt, gleichermaßen „Wellneßpapst“ wie „lamaistischer Reaktionär“ und „lebender Buddha“ sein kann.