Mit Hermann Graml hat einer der älteren Repräsentanten der deutschen Zeitgeschichtsforschung noch einmal einen Band zur nationalsozialistischen Außenpolitik zwischen 1920 und 1945 vorgelegt, der in essayistischer Form besonders das nationalsozialistisch-englische Verhältnis unter die Lupe nimmt. Dazu sei es nötig, so Graml eingangs, einen Blick auf neue Dokumente und auch noch einmal einen weiteren Blick auf bereits langbekannte Dokumente zu werfen.
Er nimmt sich dafür etwas über 120 Seiten Raum, nach deren Lektüre man zunächst sagen kann, daß darin die bekannten Dokumente und die bekannten Gedankengänge überwiegen. Inwieweit man die häufig zitierten Goebbels-Tagebücher als neu bezeichnen kann, wie es der Klappentext ankündigt, ist etwas fraglich. Immerhin kann es nicht schaden, diese offen liegenden Quellen noch einmal mit Interesse zu analysieren, was in der deutschen Zeitgeschichte leider nicht oft geschieht.
Auch der Titel „Hitler und England“ ist etwas unglücklich gewählt, denn tatsächlich nimmt Graml mehr oder weniger das volle Panorama der europäischen Politik ins Blickfeld, wie es die deutsche Zeitgeschichtsforschung in ihrem ganzen Elend entworfen hat. Die Löcher in diesem Bild sind gewaltig, die Absichten aller nicht-deutschen Staaten bloß friedlicher Natur.
Alte Legenden aufgewärmt
Den englischen Regierungschef Chamberlain, der darüber lamentierte, von den Vereinigten Staaten in den Krieg gegen Deutschland gezwungen worden zu sein, gibt es dort so wenig wie den Winston Churchill, der 1938 die Deutschen in der Luft zerreissen und die deutsche Wirtschaft zerschlagen wollte, so daß auf mindestens hundert Jahre Ruhe sei. Auch der polnische Botschafter Lipski, der zuversichtlich den Marsch polnischer Truppen auf Berlin erwartet, hat in diesem Gemälde keinen Platz.
Am Ende werden in Gramls Schrift in zunehmender Frequenz die alten Legenden wieder aufgewärmt, etwa die, Hitler habe von Polen die Rückkehr Westpreußens als Vorbedingung für einen Kompromiß verlangt (S. 111), oder die, die lebhaften deutsch-englischen Verhandlungen über den schwedischen Mittelsmann Dahlerus in den letzten Augusttagen 1939 seien belanglos gewesen (S. 121), oder die, die deutschen 16-Punkt-Verhandlungsvorschläge hätten Polen nicht erreicht (S. 123), oder die, es sei der englischen Regierung tatsächlich „technisch unmöglich“ gewesen, wie versprochen am 30. August einen polnischen Verhandlungspartner in Berlin zu präsentieren (S. 122).
Die Liste ließe sich fortsetzen. Auch die von Graml erneut als echt propagierte angebliche kriegslüsterne Rede von Generalstabschef Halder im Frühjahr 1939 bleibt eine englische Fälschung, deren Hintergrund ich neulich aufdecken konnte. (Vgl. dazu Scheil: Churchill, Hitler und der Antisemitismus, S. 268 ff.) Wenn jemand den bisherigen, lückenhaften Entwurf der deutschen akademischen Zeitgeschichtsforschung über die unmittelbare Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs noch einmal komprimiert nachlesen möchte, ist er somit bei Graml gut bedient.
Man wird dies aber nicht ihm persönlich anlasten dürfen. Die deutsche Zeitgeschichtsforschung hat sich in ihrer Mehrheit bisher nicht wirklich darauf eingelassen, die Jahre vor 1939 ergebnisoffen zu untersuchen und dabei das volle Panorama ins Blickfeld zu nehmen. Sie verharrt überwiegend noch im Elend des Germanozentrismus und der Legenden.