Der frühere Berliner Finanzsenator, amtierende Bundesbank-Vorstand und angehende Systemkritiker vom Dienst Thilo Sarrazin scheint auf den Geschmack gekommen zu sein.
Auf einer Podiumsdiskussion in Wiesbaden, veranstaltet vom hessischen „Integrationsminister“ Jörg-Uwe Hahn, wußte er mit einer griffigen Provokation wieder Schlagzeilen zu machen: „Zweimal Hausaufgaben nicht gemacht, Kindergeld um 50 Prozent gekürzt“, sagte Sarrazin. „Was meinen Sie, was auf einmal die Hausaufgaben gemacht werden.“
Wahrer Kern – Eltern müssen hinter dem schulischen Erfolg ihrer Kinder her sein, sonst ist alle Lehrermühe vergebens –, gekonnt überzeichnet und schmerzhaft zugespitzt – das funktioniert, so schafft man‘s in die Medien. Sarrazin kennt die Spielregeln; das ist einer der Gründe, warum der „Fall Sarrazin“ als politisch korrekte Kampagne ein glatter Fehlschlag war.
„Hier ist eine Not im Volke“
Gegenüber der Zeit gibt Sarrazin am Rande der Wiesbadener Veranstaltung indirekt zu, daß er nicht überrumpeltes Opfer, sondern kalkulierender Initiator der öffentlichen Empörung war: „Ob das gelungen war oder nicht, es hat gewirkt.“ Die „heftigen Reaktionen“ auf seine Einlassungen zu Kopftuchmädchen und Gemüsehändlern hätten ihn zwar überrascht.
Die Wirkung auf die Debatte in Deutschland sei jedoch positiv gewesen, ebenso die Reaktion der Bevölkerung. „Gut, daß das einmal einer gesagt hat“, sei der Tenor der meisten Zuschriften. „Hier ist eine Not im Volke“, sagt Sarrazin: Da herrsche ein Druck, „den ich mir so auch nicht klargemacht habe“.
Das ist dann wohl des Pudels Kern. Sarrazin hatte den Instinkt, dort den Finger in die Wunde zu legen, wo es brennt; wie tief die Wunde ist, hat ihn aber anscheinend erst das öffentliche Empörungstheater gelehrt: „Das ist wie beim Paukenschlag bei Haydn. Irgendwann müssen die Leute auch mal aufwachen. Danach kann man wieder ein bißchen weiterdudeln“, zitiert ihn wiederum die Zeit.
Unerschrockener Preuße als Vordenker
Deswegen, darf man annehmen, hat er auch nach der Affäre um das Lettre International-Interview regelmäßig weiterprovoziert: Mit der Forderung nach Zuzugsbegrenzung und generellem Kopftuchverbot im Unterricht, mit Kaltdusch-Empfehlungen für Hartzianer, mit der verdienten eiskalt-arroganten Abfertigung des bestellten minderbemittelten „Gutachters“, mit dem ihn die eigene Partei in die Pfanne hauen wollte und den Sarrazin als „Afterwissenschaftler“ mit „schleimigen und widerlichen“ Ergüssen abfertigte — just an dem Tag, als das Parteiordnungsverfahren gegen ihn verhandelt wurde, das er „völlig bewegungslos“ durchstehen zu wollen ankündigte. Der Verlust des SPD-Parteibuchs wäre für den Mann ersichtlich kein Verlust mehr.
Alles wacker gesprochen und getroffen, keine Frage. Da nutzt einer die doppelte Freiheit, die ihm Medienbekanntheit und eine bereits erreichte Karriere bieten, um gern Beschwiegenes laut auszusprechen. Es gibt nicht viele, die dazu überhaupt die Traute haben. Und dennoch: Auch gegen Paukenschläge stumpft das Publikum mit der Zeit ab, wenn es mit ihnen sein Bewenden hat und danach immer wieder „weitergedudelt“ wird.
Konsequent wäre für Thilo Sarrazin also, nach den debattenbefeuernden Interview-Aperçus in der Kritik an herrschenden Verhältnissen und Ideologien einen Schritt weiterzugehen. Einen unerschrockenen Preußen als Vordenker und Anführer könnte die nun auch von ihm entdeckte „schweigende Mehrheit“ gut gebrauchen.