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Rom ging niemals unter

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Rom ging niemals unter

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Sobald von „Dekadenz“ die Rede ist, muß der „Untergang“ Roms als Beispiel herhalten. Wäre der Dekadenz-Begriff empirisch zu belegen, dann hier: Hedonismus, Sittenverfall, Verweichlichung – das ganze kulturkritische Repertoire läßt sich rauf- und runterdeklarieren. Nun führt der Glaube an Dekadenz-Phasen zu zahlreichen Problemen.

Erstens setzt er voraus, daß ein Sozialsystem endlos bestehen könne, wenn die Bürger diverse Tugenden nicht verlören. Daß umgekehrt eine Reaktivierung jener Tugenden den Niedergang aufhalten und eine Regeneration herbeiführen könne. Dem steht entgegen, daß auf dieser Welt gar nichts Bestand hat, kein Lebewesen, keine Kultur, keine Religion, kein Staat.

„Ein jegliches hat seine Zeit“, weiß der Prediger 8,6. Und 1929 erkannte Ernst Fuhrmann in seiner „Biosophie“: „Es war in der übersehbaren Geschichte dem Menschen nicht gegeben, einen dauernden Staat zu schaffen.“ Wenn aber die Zerstörung eines Sozialsystems unvermeidlich ist, wenn es wie eine Pflanze keimt, wächst, aufblüht, vertrocknet und den Samen für nachfolgende Staaten und Kulturen wirft, kann man seine Schlußphasen dann als „dekadent“ bewerten? Ist das nicht moralisierende Projektion auf die unvermeidliche Abrißbirne der Zeit? Dann wäre der Verfall staatstragender Tugenden keineswegs Verursacher des „Untergangs“, sondern dessen Resultat.

Schwache Adaption griechischer Vorbilder

Man läßt den Staat los, weil seine Ideologie, Politik und Kultur nicht mehr tragen, ihre Blütezeit gehabt haben. Freilich kommt auch das morphologische Modell nicht ohne Niedergang und Verwesung aus. Egal, ob man den Kulturen zyklischen Verlauf unterstellt oder „natürlichen“ Energieverlust attestiert, in beiden Fällen entfällt lediglich die moralisierende Kausalerklärung. Man könnte aber weiterfragen, ob solche Morphologien, Vorstellungen von Aufstieg und Niedergang, auf soziale Systeme überhaupt anwendbar sind. Denn ein solches System besteht aus verschiedenen Elementen, wie Politik oder Kultur.

Demnach müßte die politische Hochform (oder deren Niedergang) zeitlich parallel zur kulturellen Blüte (oder deren Verwelkung) laufen. Aber entspricht das der Empirie? Oder gibt es Beispiele dafür, daß beim „Untergang“ des einen erst das andere zur vollen Entfaltung gelangt? Ja, zum Beispiel das antike Rom. Auf dem Höhepunkt politischer Macht war dessen Kultur eine schwache Adaption griechischer Vorbilder. Egal, ob Kult, Drama, Literatur, Philosophie, Architektur – überall imitiertes Griechenland, angereichert mit einem Schuß Massenunterhaltung.

So fand das Amphitheater im Kolosseum seinen Ersatz, aufgemischt mit Gladiatoren und anderen „Spielen“. Ein Eklektizismus ohne wirkliche Originalität. Erst als das römische Reich seine politische Macht verlor, als es zersplitterte, „unterging“, brachte es eine eigenständige Kultur hervor: das Christentum. Dessen geistige Architekten – Paulus, Hieronymus, Clemens von Alexandrien, Origines, Augustinus und Tertullian –, in römischen Provinzen gebürtig, schufen es originär aus dem politischen Absturz des Reiches heraus.

Der lautlose Zeitstrom kennt nur parallele Transformation

Zwar wollten zahlreiche Kirchenväter die Hauptstadt am Tiber – die „Hure Babylon“ der Apokalypse – stürzen sehen, auch wuchs das Christentum mit Roms Machtverlust, dennoch: Diese neue religiöse Bewegung machte Rom zur „spirituellen Hauptstadt“ Europas. Und nicht nur das römische Christentum breitete sich über ganz Europa aus, auch dessen Sprache, das Lateinische, eroberte die Gelehrtenwelt. In einem Satz gesagt: Während des machtpolitischen Niedergangs entstand eine Kulturblüte, die Rom über Jahrhunderte ins geistige Zentrum Europas rückte.

Wo bleibt da Platz für ein „Dekadenz“-Modell? Dem lassen sich weitere Beispiele hinzufügen und das Fazit lautet: Der lautlose Zeitstrom kennt nur parallele Transformation, keinen „übergreifenden“ Auf- und Niedergang. Innerhalb eines Sozialsystems kann das Verschwinden einer Form die Stärkung einer anderen begünstigen. Das gilt vor allem für die Kultur, die gerade in Krisenzeiten guten Nährboden findet. 

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