In Rom erfährt man, daß noch nicht aller Tage Abend ist. So oder so ähnlich heißt es in einem suggestiven Text von Ingeborg Bachmann, den ich stets lese, wenn ich hinfahre. Im November 2005 habe ich mich auf den Vatikan konzentriert. Zweimal lief mir dort die CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag über den Weg: Morgens auf dem Deutschen Friedhof neben der Peterskirche und dann am Nachmittag, als ich aus den Vatikanischen Museen kam.
Die Abgeordneten verließen gerade den Apostolischen Palast, wo Benedikt XVI. sie zu einer Audienz empfangen hatten. Die Herren Beckstein und Huber fielen mir auf. Sie gingen auf dem Petersplatz getrennte Wege und telefonierten hektisch. Es war kurz nach den Bundestagswahlen, Ministerpräsident Edmund Stoiber wollte als Superminister nach Berlin wechseln, die beiden konkurrierten um sein Münchner Erbe. Die Zeitungen waren voll davon. Erinnert sich noch jemand daran? So weit, so schnellebig, so unbedeutend – so kam es mir schon damals vor, in dieser Umgebung.
Auf der Mauer, die vom Vatikan in die Engelsburg (die auf Kaiser Hadrian zurückgeht) führt, lief 1527 beim Sacco di Roma der Papst um sein Leben. Am nächsten Tag besuchte ich das Petrusgrab unter dem Petersdom und verstand endlich, was der „Fels Petri“ bedeutet. Schließlich die Gärten des Vatikan: Von einer Mauer umgeben und hoch über den umlaufenden Straßen.
Wer hier residiert, bewegt sich in ganz anderen Dimensionen
Man befindet sich hier mitten in der Stadt, meinetwegen in der Mitte des Erdkreises, und hat dennoch die größtmögliche Distanz zu ihnen, was Raum gibt zur Kontemplation. Wer hier residiert, bewegt sich per se in noch ganz anderen Dimensionen, als die Gegenwart sie kennt. Nichts kann dann absurder erscheinen, als über jedes Medien-Stöckchen zu springen.
Die schrille Wut, die sich in vielen Zeitungen und Sendern über den Papst ergießt, hat weniger mit dem Kindesmißbrauch selbst zu tun als mit der Weigerung der Kirche, sich den Regeln der Mediengesellschaft und der Massendemokratie zu unterwerfen. Die Forderung, der Papst solle sich endlich zu den Mißbrauchsfällen in Deutschland äußern, ist überflüssig, weil er sich im Hirtenbrief an die irischen Bischöfe bereits unmißverständlich geäußert hat. Als Oberhaupt einer Weltkirche hat er damit auch Stellung zu den Vorfällen in Deutschland bezogen. Die deutschen Medien, die sich für weltläufig halten, kranken an provinzieller Selbstbezogenheit.
Der Regisseur Roman Polanski erhielt auf der Berlinale 2010 in Abwesenheit einen Silbernen Bären. In der Berichterstattung über Polankis gerichtsnotorische Alkoholisierung und Vergewaltigung einer 13jährigen überwog das Mitgefühl: nicht mit dem Opfer, sondern mit dem Täter. Es fehlte nicht viel, und der Regisseur wäre selber zum Opfer einer Verfolgung stilisiert worden.
Nachsicht und Mitgefühl für Jackson
Auch bei Michael Jackson ging es den deutschen Medien kaum um die kleinen Jungen. Höchstens wunderte man sich, wie Eltern ihre Kinder einem derart bizarren Mann überlassen konnten. Als Motiv für die Klagen und Anzeigen wurde – wohl zu recht – Geldgier vermutet. Für Jackson blieb Nachsicht und Mitgefühl übrig. Warum diese Ungleichbehandlung?
Beide, Polanski und Jackson, sind (beziehungsweise waren) Akteure des Kulturbetriebs und damit Ikonen der modernen Massendemokratie, zu deren Mitspieler auch Journalisten gehören. Wenn Sex mit Kindern im Zeichen grenzüberschreitender Selbstverwirklichung, von Emanzipation oder als Kompensation für eine lieblose Kindheit zelebriert wird, bleibt der Täter im Toleranzbereich der vermeintlich aufgeklärten Gesellschaft und kann mit Absolution rechnen. Denn die Möglichkeit der symbolischen Teilhabe und Kontrolle durch die Medienöffentlichkeit ist ja gegeben. Mehr als um den Mißbrauch geht es darum, wer das Recht dazu hat.
Die Odenwald-Schule befindet sich in einer Zwitterstellung. Sie ist zwar elitär, aber irgendwie auch fortschrittlich (Reformpädagogik!), weshalb in ihrem Fall der Medienlärm gedämpft bleibt.
Die katholische Kirche muß konsequent handeln
Der Papst und die katholische Kirche dagegen, die sich auf Aufklärung, Fortschritt und Mehrheitsbeschlüsse nicht verlassen wollen, bilden einen Arkan-Bereich, dessen pure Existenz die Allgemeingültigkeit der Massen-, Zivil- und Mediengesellschaft bestreitet und mahnt, daß noch nicht aller Tage Abend ist.
Das ist bedrohlich für alle, die glauben, ihre Existenz erfülle sich ganz in der Gegenwart. Daher der Druck auf die Kirche, sich ganz und gar der Moderne zu verschreiben und ihren Göttern zu huldigen. Gegen Pädophilie – siehe Polanski und Jackson – aber hilft das gar nichts.
Ich bin Protestant, aber ich wünsche mir, daß die katholische Kirche aus ihrer eigenen Logik heraus konsequent handelt: Daß sie einen klaren Schnitt zwischen sich und den Sex-Tätern in ihren Reihen macht, im übrigen aber aus gelassener Distanz unterscheidet, was notwendige Anpassung und was bloß Gekräusel ist auf den Wellen der Zeit.