Ein Raunen ging durch den Raum. Es wurde sogar zweimal „Volksverhetzung“ gerufen; eine Rechtsanwältin und ein Rechtsanwalt sahen sich gezwungen, so ihr Mißfallen kundzutun. Man darf jedoch davon ausgehen, daß gerade die Anwälte, die laut gerufen haben, überhaupt nicht wissen, welche Tatbestandsmerkmale erfüllt werden müssen, um eine Volksverhetzung zu begehen. Andere Rechtsanwälte nahmen das Urteil wie es war, einige andere grinsten breit und erfreuten sich an der zumindest politisch inkorrekten Aussage.
Was war geschehen? Ein Dozent hat vor einer Gruppe von circa 50 Anwälten während eines Fachanwaltslehrgangs ein Urteil des Oberlandesgerichts Rostock besprochen. Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
Im Mai 2005 fährt der Kläger mit seinem Fahrzeug nach Danzig. In einer Straße hält er an, läßt den Motor laufen und den Zündschlüssel stecken und steigt aus dem Auto aus, um einen Passanten nach dem Weg zu fragen. Während er nach dem Weg zu seinem Hotel fragt, steigt eine Person in das Fahrzeug, fährt damit fort und entwendet es somit. Der Kläger verlangt nun von seinem Versicherer aufgrund eines Kasko-Versicherungsvertrages die Zahlung von über 40.000 Euro. Die Versicherungsgesellschaft lehnt die Zahlung unter anderem deswegen ab, weil der Versicherungsnehmer grob fahrlässig gehandelt hat.
Besonderheiten in Polen
Zwar wurden ähnliche Sachverhalte durch die deutsche, obergerichtliche Rechtsprechung auch für Entwendungen in Deutschland entschieden – das Oberlandesgericht Rostock traf jedoch noch einige Feststellungen zu den Besonderheiten in Polen.
Zitat aus dem Urteil: „Vorliegend hat der Kläger grob fahrlässig … gehandelt, indem er sein Fahrzeug in Polen verließ, dabei den Schlüssel stecken ließ, um das Auto herum auf die Beifahrerseite ging und sich dort mit einem Passanten unterhielt. … Objektiv stellt das Unterlassen jeglicher Sicherungsmaßnahmen beim Verlassen eines Fahrzeuges in der Regel einen groben Verstoß dar. … Der Kläger hat auch subjektiv grob fahrlässig gehandelt, denn er hat das, was jedem in gegebener Situation einleuchtet, außer Acht gelassen und damit ein Verhalten gezeigt, daß einfache Fahrlässigkeit übersteigt.
Jedermann ist bekannt, daß Fahrzeugdiebstähle in Polen gang und gäbe sind. … Gerade in Polen muß damit gerechnet werden, daß Personen unterwegs sind, die gezielt nach Möglichkeiten zum Fahrzeugdiebstahl, insbesondere von Luxusfahrzeugen – wie hier einem Audi A8 – Ausschau halten oder spontan eine passende Gelegenheit ausnutzen.“
Entscheidungen auch durch den Bundesgerichtshof
Da die Angaben des Versicherungsnehmers hinsichtlich des Versicherungsfalles widersprüchlich waren und zumindest eine grobe Fahrlässigkeit vorlag, bekam der Kläger seinen Schaden aufgrund des entwendeten Audi A8 nicht ersetzt.
Übrigens mußte auch der Bundesgerichtshof sich schon mehrere Male mit entwendeten Fahrzeugen in europäischen Großstädten befassen. Bei dem Diebstahl eines Leopardenmantels aus einem Porsche in Lyon oder dem Diebstahl eines Porsche in Mailand stellte der Bundesgerichtshof fest, daß es nicht grob fahrlässig sei, wenn ein PKW verschlossen und mit eingeschalteter Alarmanlage in der belebten und beleuchteten Hauptstraße einer europäischen Großstadt geparkt wird.
Was lernen wir daraus? Egal, ob wir uns in Lyon, Mailand, Danzig oder in Offenbach befinden – die Hauptsache ist, wir verschließen das Fahrzeug und schalten die (evtl. vorhandene) Alarmanlage ein. Dann haben wir keinen Mitbürger zur Begehung eines Diebstahls animiert und in den zukünftigen Fachanwaltslehrgängen muß auch niemand mehr „Volksverhetzung“ rufen.