Die Woche des siebzigjährigen Kriegsausbruchs ist vorbei. Sie hat nur wenig Unerwartetes mit sich gebracht. Es wurden die vorausschaubaren Reden gehalten und die üblichen Alleinverantwortungen festgestellt.
Für einen kleinen Höhepunkt sorgte allenfalls die Bundeskanzlerin, als sie Mittags in Danzig den morgens im Interview mit dem deutschen Fernsehen bekräftigten Hinweis auf das an den deutschen Vertriebenen verübte Unrecht nicht noch einmal über die Lippen brachte. Statt dessen stellte sie in religiösem Habitus die „immerwährende“ deutsche Verantwortung für den Gesamtkomplex „Weltkrieg“ fest.
Ich habe in diesen Tagen zufällig Fritz Sterns Autobiographie gelesen, über die „Fünf Deutschland“, die er in seinem Leben kennengelernt habe. Der 1926 in Breslau geborene Stern hat Deutschland 1938 zusammen mit seinen Eltern als Verfolgter wegen seiner jüdischen Wurzeln verlassen und in den USA eine neue Heimat gefunden.
Dort hat er sich als Historiker gerade der deutschen Geschichte einen Namen gemacht. Er läßt seine Darstellung mit einem Besuch in seiner Heimatstadt beginnen, wo er Ende der siebziger Jahre durch die Straßen gestreift sei und sich letztlich nur anschaulich den Untergang der Welt bestätigen konnte, in die er hineingeboren worden war. Daß nicht nur die jüdische Welt in Breslau untergegangen sei, sondern auch die deutsche, dafür könne er kein Bedauern empfinden, schreibt er.
Pseudoreligiöse Bekenntnisse der politischen Sphäre
Das ändert für Stern nichts daran, seiner Linie treu zu bleiben und kenntnisreich nach den Gründen zu suchen, warum die deutsche Geschichte in diesen Bahnen verlaufen ist.
Er zweifelt keinen Augenblick daran, daß eine rationale und wissenschaftliche Analyse der Dinge möglich ist und erhebt es förmlich zum Programm, in der deutschen Geschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts das Auftreten von Möglichkeiten, auch von bösartigen Potentialen zu sehen, die in der Menschheit stets und überall angelegt sind. Erst eine bestimmbare Kette von Ursachen und Zufälligkeiten lasse dieses Potential dann politische Wirklichkeit werden.
Man muß die Auswahl an Ereignissen, die Stern dabei für die wichtigsten hält, nicht unbedingt billigen, so wenig wie manche seiner Urteile. Darauf kommt es auch gar nicht an. Entscheidend sind die weite Perspektive des Ansatzes und die Erwartung an sich selbst, die Dinge im Prinzip erklären zu können.
Dies ist weit von den pseudoreligiösen Bekenntnissen der politischen Sphäre entfernt, die heute längst auch die akademische Szene prägt, nicht nur in Deutschland. Fast gehört auch seine Geisteshaltung schon einer untergegangenen Welt an, jedenfalls einer schwindenden, gibt Stern zu bedenken.