Es gibt Schwabenstreiche, die werden so wuchtig und treffsicher geführt, daß man zur Rechten wie zur Linken „einen halben Türken herniedersinken“ sieht, wie Ludwig Uhland kündete. Und dann gibt es noch Schwabenstreiche, die gehen so grandios daneben, daß die legendären Schildbürgerstreiche im Vergleich ganz blaß aussehen.
Das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ gehört fraglos zur zweiten Sorte. 33 km Eisenbahntunnel in geologisch hochsensiblem Gelände graben, den halben Hauptbahnhof abreißen und jahrhundertealte Baumbestände abholzen, damit ein leistungsfähiger Kopfbahnhof mit 18 Gleisen als durchgehender besserer S-Bahnhof mit acht Gleisen im dichtbefahrenen Zentrum einer Großstadt unter die Erde vergraben werden kann – das ist freilich ein anderes Kaliber als ein Rathaus ohne Fenster bauen und das Licht dann mit Säcken reintragen wollen.
Auf die verheißenen neuen Stadtquartiere, die auf den freiwerdenden Gleisflächen entstehen sollen, kann sich auch nur freuen, wen es bei der üblichen Stuttgarter Neubauarchitektur nicht graust. Als „architektonisch besonders wertvoll“ gilt hier simpelstes Bauhaus-Epigonentum der dritten Ableitung – ödes Glas-Beton-Gewürfel mit eintönigen geschleckten Rasenflächen und wie Zinnsoldaten in Reih und Glied gesteckten Rasierpinsel-Bäumchen dazwischen.
Weder geologische noch verkehrs- oder städteplanerische Argumente konnten bisher Licht ins Rathaus oder in die Büros der anderen Projektpartner bringen, seit in der sanft ausklingenden Ära Kohl die „Maultaschen-Connection“ aus Bahnchef, Bundesverkehrsminister und Ministerpräsident, sämtlich Landsleute und Parteifreunde, vor fünfzehn Jahren diesen Schwabenstreich ausgeheckt hat.
Blinder Haß auf das überkommene Schöne
Einer der letzten Trümpfe der ein ums andere Mal geheimdiplomatisch ausgebremsten Projektgegner ist der Stuttgarter Architekt Peter Dübbers, Enkel des großen Baumeisters Paul Bonatz, des Schöpfers des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Bei ihm liegt das Urheberrecht für das Werk seines Großvaters, das der internationalen Fachwelt ein Meilenstein der Industriearchitektur des frühen 20. Jahrhunderts, der Unesco ein Anwärter auf den Weltkulturerbe-Titel und den meisten Stuttgartern ein markantes und liebgewordenes Wahrzeichen ihrer von Krieg und Wiederaufbau doppelt verwüsteten Stadt. Er will gegen den vorgesehenen Abriß der Seitenflügel klagen, die den monumentalen Bau zum Torso degradieren würden.
Ist es deutsch, ist es schwäbisch – dieser blinde Haß auf das überkommene Schöne und Einzigartige, das bedenkenlos dem Profit und dem Modernisierungswahn geopfert wird, ohne nach links und rechts zu schauen? Publizistischer Widerstand wird in den tonangebenden Tageszeitungen praktisch nur noch in Leserbriefen geleistet, die Redakteure halten sich gegenüber den bauwütigen Politikern und Managern vorsichtig zurück. Auch eine Form des Auseinanderklaffens von öffentlicher und veröffentlichter Meinung.
Hoffen auf finanzielle Eskalation
Am Ende ist vielleicht die allerletzte Rettung – ausgerechnet das Geld. Aus den unter Bahnchef Mehdorn veranschlagten drei Milliarden Baukosten sind unter Nachfolger Grube längst vier geworden, der „Risikotopf“ für Kostensteigerungen während des Baus ist schon vor dem ersten Spatenstich fast leergetrunken.
Der Bundesrechnungshof rechnet mit über fünf Milliarden Baukosten, externe Gutachter mit sechs bis acht. Bisher haben die Verantwortlichen solche Zahlen stets autistisch beiseitegeschoben. Doch jetzt ist hinter den Kulissen Streit ausgebrochen, wer für weitere Mehrkosten aufkommen soll. Der Steuerzahler natürlich, aber wer soll’s ihm sagen und ihm die Moneten abknöpfen?
Am 31.12. ist Ausstiegstag, bis dahin kann das Bau- und Finanzierungsabkommen für „Stuttgart 21“ wegen außerordentlicher Kostensteigerungen noch gekündigt werden. In der Schwabenmetropole werden derzeit wohl viele Daumen gedrückt, daß der Streit ums Geld zwischen den Projektverschworenen noch ordentlich eskalieren möge. Sonst verliert Deutschland vielleicht schon im nächsten Jahr ein weiteres unwiederbringliches Architekturdenkmal durch mutwillige Verstümmelung.