Spätestens seit 1945 ist die hiesige Kultur traumatisiert. Ein kollektives Schuldgefühl – hervorgerufen durch die industrialisierte Ermordung unzähliger Menschen – hielt kontinuierlich Einzug in den Alltag. Nun verlangt aber jedes Trauma nach Therapie. Und das forderten auch Margarete und Alexander Mitscherlich – letzterer ein ehemals „konservativer Revolutionär” aus dem Ernst-Jünger-Zirkel – in ihrem Klassiker „Die Unfähigkeit zu trauern” (1967). Ausgangspunkt: Die Deutschen der Nachkriegszeit würden ihre Schuld verdrängen, aber nur durch deren Eingeständnis könne langfristig eine Linderung, gar Heilung eintreten.
Der Ansatz impliziert, daß auch dieses Trauma durch die Therapie des Eingestehens überwindbar sei. Nur, wie bei individueller Behandlung ist der Zeitpunkt der Heilung nicht vorhersehbar. Er kann morgen oder erst nach Jahrzehnten eintreffen. Manchmal bleibt die Heilung sogar gänzlich aus und der Patient muß sich mit Linderung zufriedengeben. Dennoch, zur Therapie gibt es keine Alternative.
Oder, was bliebe sonst? Wer sein Trauma leugnet, den spaltet es. Wer es durch Aufrechnung mit anderer Menschen Elend relativiert, wird – seltsamerweise – trotzdem nicht symptomfrei. Egal, welche Richtung man wählt: Ein Großteil des Lebens dreht sich um die Symptomatik – ob man sie bekämpft oder leugnet. Wer die Verantwortung beim Mitmenschen sucht, erlangt ebenfalls keine Besserung. Er vergeudet nur hohe Lebensenergie für Haßprojektionen.
Nachfahren leiden unter kollektiver Seelenlast
Es gehört zum Wesen des Traumas, daß es sich selbst erhalten will. Wie oft sabotiert der Patient alle therapeutische Fortschritte, weil er – scheinbar paradox – Angst vor dem Verlust seines Traumas hat. Als sei es für ihn und seine Selbstdefinition absolut notwendig. Und der Betroffene erfaßt nicht, daß diese Angst bloß ein „Trick”, eine „Selbstverteidigung” seiner Neurose ist.
Leider ist auch die moderne Psychotherapie vom Mythos der Machbarkeit infiziert. Was zu nicht geringer Überschätzung führt. Mag sie konkurrenzlos sein, ihre Wirksamkeit – gerade in Bezug auf die Leidensdauer – ist begrenzt. Es bleibt keine Wahl, schließlich kommt das Wort „Patient” von „pati“ (dulden, leiden): aufklären, sich schmerzhaften Fakten stellen, die künstlerische Imagination zu Hilfe rufen, und jeden noch so kleinen Fortschritt begrüßen. Das gilt für beide Seiten, Täter wie Opfer, denn beider Nachfahren leiden unter kollektiver Seelenlast.
Wird die Therapie unterbunden, beginnt es im Untergrund zu brodeln. Das artikuliert sich in immer neuen Tabus, bis es explodiert. Solche Erschütterungen scheinen aktuell der Türkei (in bezug auf die Armenien-Massaker vor fast 100 Jahren) bevorzustehen.
Mitglieder einer Trauma-Kultur
Liest man vor dem Hintergrund dieses Psycho-Szenarios die zahlreichen Jubel-Rezensionen für „Inglorious Basterds”, wird deutlich: Der Film erlöst, exorziert während der zwei Stunden Laufzeit die Mitglieder einer Trauma-Kultur. Stellt die Frage: „Was wäre, wenn die Geschichte so nicht stattgefunden hätte? Wenn die Opfer sich gewehrt hätten?” Dann wäre das Trauma nur ein (Alp-)Traum gewesen, aus dem man endlich erwachen kann. Freilich, diese Wirkung hält nicht lange an. Nachdem man das Kino verlassen hat, kehrt der traumatisierte Alltag langsam zurück. Ähnlich dem Psychopharmakon, das nicht heilt, sondern die Symptome nur kurzzeitig zum Verschwinden bringt.
Wie nötig dieses Psychopharmakon einmal sein würde, wieviel Traumapotential die NS-Verbrechen implizierten – das haben die sensibelsten Zeitgenossen schon während des Krieges bemerkt. So antizipierte der Horror- und SF-Autor Manly Wade Wellman (1903 bis 1986) bereits 1943 das Tarantino-Konzept. In seiner klassischen Kurzgeschichte „The Devil is not mocked” (Der Teufel läßt nicht mit sich spaßen) erzählt Wellmann von der NS-Besatzungsmacht in Rumänien. Als bekannt wurde, daß sich Juden in den Karpaten versteckt hielten, nimmt ein SS-Trupp die Verfolgung auf.
Grausamkeit einer Therapie
Vom anbrechenden Abend im Gebirge überrascht, besetzt die Mannschaft ein altes Schloß und zwingt den alten Besitzer, ihnen Quartier zu gewähren. In der Nacht hört der Obersturmbannführer einen Todesschrei und findet kurz darauf einen getöteten SS-Mann. Das wiederholt sich, bis die ganze Truppe restlos dezimiert ist. Und erst der letzte erkennt, daß sie in Draculas Schloß gelandet sind, der an ihnen seinen Blutdurst stillt.
Lange vor Tarantino erweist sich für Wellmann der alte Graf als ein „Inglorious Basterd”. (Bisher ist weder Wellmanns Geschichte noch deren Verfilmung von 1971 in deutscher Sprache erschienen.)
Wie gesagt, bei einer Langzeittherapie ist all das wenig hilfreich. Da helfen eher Filme wie „Der Vorleser” (2008) weiter. Werke, die den Zuschauer ins Chaos stürzen, weil sie eindeutige Positionierung von Emotionen sabotieren. Darin steckt die ganze Grausamkeit einer Therapie.