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Der Professor, Marx und der Papst

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Eine so klare wie desillusionierende Formel hatte den Verfassungsjuristen Ernst-Wolfgang Böckenförde schon 1976 bekannt gemacht, als die alte Bundesrepublik noch satt an sich selbst und sozialdemokratisch regiert war: „Der freiheitlich säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Gemeint ist die Mündigkeit der Bürger. Das war nichts fürs Sozialkundebuch.

In der vergangenen Woche legte er in der Süddeutschen Zeitung nach und holte zur Generalrevision gegenüber dem Kapitalismus aus. Der kranke nicht erst an modernen Finanzexzessen, sondern vielmehr an der historischen Wurzel „seiner zweckrationalen Leitidee“ des „ausgreifenden Besitzindividualismus“. Deshalb helfe nach Böckenförde nicht das „Heilmittel am Rand“, sondern nur noch die „Umkehrung des Ausgangspunktes“, indem zu einem „ursprünglichen Widmungszweck“ zurückgekehrt werden müsse, gemäß dem „die äußeren Güter gemeinsame sind“.

Böckenförde zitiert gleich absatzweise Marx und packt Kapitalismus – früher für sich schon ein böses Wort – mit Krankheit in einen Satz. Und weil er Christ ist, führt er als zweiten Gewährsmann Thomas von Aquin und die christliche Soziallehre ins Feld. Revolution und Heil gewissermaßen, marxistische Analyse und christliche Umkehr.

Was könnte revolutionärer sein, als in der liberalen deutschen Presse ein „Gegenmodell zum Kapitalismus“ zu verlangen, weil der „in seinem inhumanen Charakter entlarvt“ sei?

Man kann diesem Autor, der das Bundesverdienstkreuz ablehnte, ehrliche Besorgnis abnehmen und kritische Courage zutrauen. Interessanterweise spricht er mehrfach von „grundlegenden Setzungen“ durch eine „handlungs- und entscheidungsfähige“ Staatsgewalt, die einen Umbau bewerkstelligen müsse, der „sich auf dem Wege allseitiger Konsensbildung nicht bewirken läßt“. Diese Staatlichkeit fehle aber, „weil die Kraft des Nationalstaates angesichts der globalen wirtschaftlichen Verflechtung nicht mehr ausreicht“.

Als Jurist wird der Professor wissen: Mit dieser Argumentation traut er der Demokratie wenig zu und ist bei Carl Schmitt und dessen Dezisionismus ebenso angekommen wie bei dem alten Gedanken des nationalen Sozialismus in der Lesart Oswald Spenglers. – Erkennt hier ein Vertreter der „politischen Mitte“, daß es mit dem Krisenmanagement einer müden und lobbyistisch korrumpierten Demokratie nicht getan ist, und ruft er daher sogar den Marxismus, die Theologie und selbst den Papst in ein und demselben Essay auf?

Sich aus rhetorischen Vereinbarungen des Wohlstandsopportunismus zu lösen, die EU nicht als Gipfel europäischer Gemeinschaft, sondern als ökonomische Gleichschaltung von Kulturen zu erkennen, das System mutig neu zu prüfen und eine kritische Demokratie zu wagen, das wird jedenfalls der Weg sein, den jene aus der Mitte gehen müssen, die Intellektualität und Kraft aufbringen, weder im Demokratieimport der Bonner noch in der polierten Selbstgefälligkeit der Berliner Republik das Ende deutscher Geschichte zu sehen. Was wir aktuell erleben, ist nur die dissonante Ouvertüre zu einer großen Oper.

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