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Streiflicht: Tidenhub der Geschichte

Streiflicht: Tidenhub der Geschichte

Streiflicht: Tidenhub der Geschichte

Nordseeküste in der Abenddämmerung
Nordseeküste in der Abenddämmerung
Nordseeküste in der Abenddämmerung: Wie stark sind die Fundamente, auf denen unser Gemeinwesen und unsere Kultur ruht? Foto: picture-alliance/DUMONT Bildarchiv
Streiflicht
 

Tidenhub der Geschichte

Ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit ich 1987 das Eiland im Sommer zuletzt besuchte. Es ist die westfriesische Insel Terschelling. Der machtvolle Tidenhub, die von donnernder Brandung begleitete Gewalt der Gezeiten – es ist ein sich aufdrängendes Bild für den Lauf der Geschichte. Ein Kommentar von JF-Chefredakteur Dieter Stein.
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Ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit ich 1987 das Eiland im Sommer zuletzt besuchte. Es ist die westfriesische Insel Terschelling. Sentimentale Erinnerungen hängen an ihr. Fast jede Sommerferien hat unsere Familie dort verbracht. Im randvoll gepackten Volvo 245 Kombi fuhren wir, fünf Kinder auf dem über umgeklappte Sitze gestapelten Gepäck liegend, von Bayern, später Baden-Württemberg, durch die Nacht. Im Morgennebel passierten wir die Grenze, und dann ging es mit der Frühfähre hinüber.

Nun wieder da, jetzt mit den eigenen Kindern. Wie oft erleben wir Enttäuschungen, wenn wir Orte der Vergangenheit besuchen. Nicht hier. Es sind Gerüche, die unser Gehirn besonders gut speichert: der Duft des Dünengrases, die Seeluft, an der Sonne trocknende Krebse, Sanddorn, die Fritten einer Pommesbude, das holländische Marzipangebäck. Mich faszinierte schon als Kind der Kampf der Küstenbewohner mit dem Meer. Wie sie der See das Land durch den Deichbau abtrotzten. Stundenlang buddelten wir Dämme, um das Wasser der Priele bei Ebbe zu stauen, oder große Burgen, die der anrollenden Flut widerstehen sollten.

Historische Umbrüche

Der machtvolle Tidenhub, die von donnernder Brandung begleitete Gewalt der Gezeiten – es ist ein sich aufdrängendes Bild für den Lauf der Geschichte. Es gibt historische Bewegungen, Veränderungen, Umbrüche, gegen die sowenig anzukommen ist wie der Flut mit einer Sandburg. Dieser Tidenhub der Geschichte vollzieht sich nur unendlich langsamer als die vom Mond alle zwölf Stunden um die Erde geschobene Gezeitenwelle. Welches politische oder gesellschaftliche Projekt auf Sand gebaut wurde, stellt sich deshalb erst verzögert heraus. Und: Der Aufbau solider Institutionen benötigt langen Atem und muß die Kräfte der Naturgewalten in Rechnung stellen. Der Tidenhub hinter den Krisen der Zeit sind Demographie, Religion, Ethnie, Kultur. An geopolitischen Engpässen kommt es zu Brechungen und Eruptionen.

Wie stark sind die Fundamente, auf denen unser Gemeinwesen und unsere Kultur ruht – in Deutschland und Europa? Wir leben von Beständen, die unsere Vorfahren mühsam erschaffen haben, wir leben hinter sichernden Traditionen, geschirmt von Institutionen – wie Friesen hinter Deichen auf dem der Nordsee abgerungenen Marschland. Doch sind die Dämme unterspült. Liliencron besang den Hochmut der im Frieden sorglosen Menschen, die die Gewalt des Meeres (der Geschichte) vergessen und deren Stadt untergeht: Und überall Friede, im Meer, in den Landen. / Plötzlich, wie Ruf eines Raubtiers in Banden: / das Scheusal wälzte sich, atmete tief / und schloß die Augen wieder und schlief. / Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen / kommen wie rasende Rosse geflogen. / Trutz, Blanke Hans!

Nordseeküste in der Abenddämmerung: Wie stark sind die Fundamente, auf denen unser Gemeinwesen und unsere Kultur ruht? Foto: picture-alliance/DUMONT Bildarchiv
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