In einem seitenfüllenden Feuilletonaufmacher hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine wilde, geradezu gnadenlose Attacke gegen den Schriftsteller Siegfried Lenz (88) und dessen Roman „Deutschstunde“ geritten. Das Buch ist 1968 erschienen und seine Zentralfigur ist ein expressionistischer Maler namens Max Ludwig Nansen, dem Lenz viele Züge des wirklichen, hochberühmten Malers Emil Nolde (1867–1956) verliehen hat.
Die „Deutschstunde“ behandelt vor allem das Schicksal Nansens in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft und schildert, wie ein großer Künstler, weil seine Bilder angeblich „entartet“ sind, in die Mühlen staatlicher Verfolgung gerät, mit Schaffensverboten belegt, gedemütigt und drangsaliert wird. Das Buch war ein gewaltiger Erfolg, Zitate aus ihm und lobende Besprechungen zieren heute noch viele deutsche Schullesebücher. Es gilt als fester Bestandteil korrekter Vergangenheitsbewältigung.
Noldes historische Verortung
Doch jetzt soll damit Schluß sein. Emil Nolde, so die FAZ, sei kein Gegner des Nationalsozialismus gewesen, sondern einer seiner leidenschaftlichsten Anhänger, den nicht einmal die Verfolgungen, die er selbst erleiden mußte, in seinen NS-Überzeugungen irre machen konnten. Und Siegfried Lenz habe genau darüber Bescheid gewußt, denn schon Walter Jens habe, noch bevor die „Deutschstunde“ erschien, in einer öffentlichen Rede darauf hingewiesen. So könne es nur noch ein einziges Mittel dagegen geben: „Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der ‘Deutschstunde’ müssen umgeschrieben werden.“
Man kann über den Fall natürlich lachen. Ausgerechnet eine Bibel der 68er-Bewegung gerät in den Verdacht der „Leugnung“ und „Verharmlosung“. Ausgerechnet eine literarische Ikone der „Gruppe 47“ wird in schnödester Weise der Nazihuberei verdächtigt. Ausgerechnet das eingetragene NSDAP-Mitglied Walter Jens wird als Kronzeuge für die „Schönfärberei“ des Siegfried Lenz in Stellung gebracht. Die Vergangenheitsbewältigung frißt ihre eigenen Kinder.
Steht Lenz bald auf den Fahndungslisten der Bundesregierung
Aber die Angelegenheit ist eher betrüblich denn komisch. Das Umschreiben von historischen Büchern in aktuell-politischer Absicht wird immer zeitgeistiger, macht jetzt auch vor komplexen hochliterarischen Texten nicht mehr halt. Doch die Sache war vorauszusehen. In schlimmer Erinnerung ist noch, wie hierzulande zur „Reinigung“ berühmter Kinderbücher von Astrid Lindgren und Otfried Preußler aufgerufen wurde, weil es in ihnen „rassistisch“ und politisch inkorrekt zugehe.
Soeben hat in Berlin der Justizminister der Großen Koalition einen Gesetzentwurf zur schärferen Verfolgung und Bestrafung „rassistischer“ Taten vorgelegt. Wenn es so weitergeht, wird wohl bald auch Siegfried Lenz auf der Fahndungsliste stehen. Dagegen hülfe dann nicht einmal mehr ein später Nobelpreis.