Nehmen wir einmal an, es gäbe in einem anderen europäischen Land, sagen wir Großbritannien, eine linke Großdemonstration gegen die bürgerliche Regierung Cameron. Es gingen über 500.000 Menschen auf die Straße und protestierten gegen ein gesellschaftspolitisches Vorhaben – wäre das nicht der Aufmacher für die Nachrichtensendungen und Zeitungen?
Nun waren es keine Linken, sondern ein breites bürgerliches Bündnis, das am vergangenen Sonntag über eine halbe Million Franzosen zu einer Großdemonstration gegen die Politik des sozialistischen Präsidenten Hollande auf das Marsfeld vor dem Eiffelturm führte. Und die deutschen Medien? Sie spielten das Ganze herunter und meldeten es an unprominenter Stelle.
Der Widerstand entzündet sich am Vorhaben der völligen Gleichstellung homosexueller Partnerschaften durch eine „Ehe für alle“. Es ist nun eine neue Erfahrung, daß es nicht mehr nur linke „gesellschaftliche Bündnisse“ gibt, die Bürger mobilisieren, auf die Straße zu gehen, sondern auch konservative. Ein in dieser Größenordnung noch nicht gekanntes Phänomen.
Das deutsche Bürgertum hat ein geistig gebrochenes Rückgrat
Besonders für uns Deutsche, wo ein lethargisches Bürgertum sich bislang oft damit begnügt, die Faust in der Tasche zu ballen, um dann doch am Wahltag wieder das Kreuz beim „kleineren Übel“ zu machen, das sich immer wieder als das größere entpuppt.
Dieses Phlegma provozierte Arnulf Baring vor zehn Jahren zu seinem pathetischen Appell „Bürger, auf die Barrikaden!“, der jedoch, vom plüschigen Logenplatz des FAZ-Feuilletons aus ins Parkett hinabgerufen, folgenlos verhallte. In Deutschland scheitern Revolutionen nicht wie einst aus Mangel an gelösten Bahnsteigkarten, sondern unter anderem, weil das Bürgertum nach zwei verlorenen Weltkriegen ein geistig gebrochenes Rückgrat hat.
Weshalb es in Deutschland im Gegensatz zu Frankreich auch nicht die selbstverständliche Legitimität einer politischen „Rechten“ gibt, der gleichberechtigte politische Partizipation zugestanden wird.
Es ist zu wünschen, daß der Funke aus Frankreich überspringt
Die föderalistische Zersplitterung, die Mentalitätsverschiebung zwischen Ost und West, aber auch die Entchristlichung und konfessionelle Spaltung Deutschlands tun ihr übriges: Frankreich ist trotz seiner traditionell ausgeprägten Trennung von Kirche und Staat noch immer zu drei Vierteln katholisch geprägt, und der laizistische Staat hat die Kirche nicht wie in Deutschland durch den komfortablen Kirchensteuereinzug fett und feige werden lassen, sondern in Opposition gehalten.
Daß deutsche Bistümer in die Organisation eines gesellschaftlichen Protestes gegen die Homo-Ehe und zur Verteidigung der Familie einsteigen – derzeit unvorstellbar.
Es ist zu wünschen, daß der Funke aus Frankreich überspringt und wir uns vom phantasievollen Protest und Widerstandsgeist unserer gallischen Nachbarn inspirieren lassen.
JF 4/13