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Rücktritt Kemmerichs 2020: Ein schwarzer Tag für die Demokratie?

Rücktritt Kemmerichs 2020: Ein schwarzer Tag für die Demokratie?

Rücktritt Kemmerichs 2020: Ein schwarzer Tag für die Demokratie?

Nach der Wahl Thomas Kemmerichs (FDP) (l.) warf die Linken-Politikerin Susanne Hennig-Wellsow ihm die Blumen vor die Füße Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Martin Schutt
Nach der Wahl Thomas Kemmerichs (FDP) (l.) warf die Linken-Politikerin Susanne Hennig-Wellsow ihm die Blumen vor die Füße Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Martin Schutt
Nach der Wahl Thomas Kemmerichs (FDP) (l.) warf die Linken-Politikerin Susanne Hennig-Wellsow ihm die Blumen vor die Füße Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Martin Schutt
Rücktritt Kemmerichs 2020
 

Ein schwarzer Tag für die Demokratie?

Vor zwei Jahren wurde der FDP-Politiker Thomas Kemmerich überraschend zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt und trat drei Tage später zurück. Denn mit AfD-Stimmen geht sowas nicht – sagte die Kanzlerin. Man kann rückblickend einiges daraus lernen. Ein Kommentar.
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Wer zum Club zivilisierter Staaten gehören möchte, muß sich eine Gretchenfrage gefallen lassen: Wie haltet ihr es mit der Opposition? Es ist kein Geheimnis: Die Zahl der Mitglieder im Club der Demokratien ist gering. Die Bundesrepublik Deutschland gehört bisher dazu.

Nach Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes geht alle Staatsgewalt vom Volke aus, vorrangig ausgeübt in Wahlen und Abstimmungen. Diese Vorschrift setzt eine Opposition voraus, denn wo es nichts zu wählen gibt, kann von Volkssouveränität nicht die Rede sein. Gründlich, wie die Deutschen sind, haben sie die Willensbildung vom Volk hin zu den Staatsorganen nach Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes mit Ewigkeitsgarantie ausgestattet.

In vielen Landesverfassungen ist die Opposition – anders als im Grundgesetz – als „ein Organ des Volkswillens“ sogar ausdrücklich geregelt. So heißt es etwa in Artikel 59 der Verfassung des Freistaats Thüringen: „Parlamentarische Opposition ist ein grundlegender Bestandteil der parlamentarischen Demokratie“, ausgestattet mit dem „Recht auf Chancengleichheit“. Artikel 24 Absatz 2 der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg fügt einer entsprechenden Regelung erläuternd hinzu: Die Opposition „hat die ständige Aufgabe, Kritik am Regierungsprogramm im Grundsatz und im Einzelfall öffentlich zu vertreten. Sie ist die politische Alternative zur Regierungsmehrheit“.

Die Kanzlerin rief nach einem neuen Ministerpräsidenten

Überall in der Welt sind unsere Politiker daher als Handlungsreisende in Sachen Demokratie unterwegs. Wird Opposition unterdrückt oder schlecht behandelt, hagelt es Kritik. Vor nicht allzu langer Zeit war es wieder einmal so weit: „Ein schlechter Tag für die Demokratie“, „ein abgezocktes Spiel, daß die Demokratie der Lächerlichkeit preisgibt“, „ein unverzeihlicher Vorgang“, „eine abgekartete Sache“, „wir sind entsetzt über die Ruch- und Verantwortungslosigkeit“ und so weiter und so fort. Oppositionelle irgendwo niedergeknüppelt? Schüsse auf dem Platz des Himmlischen Friedens? Donald Trump Präsident auf Lebenszeit? Viel schlimmer!

Im weltpolitisch bedeutsamen Thüringen ist Bodo Ramelow von den Linken als Ministerpräsident abgewählt und durch Thomas Kemmerich von der FDP ersetzt worden. Und das Schlimmste daran: Mit den falschen Stimmen! Was sind „falsche“ Stimmen? Das sind solche, die von einer Partei stammen, von denen die Etablierten wollen, daß es sie nicht gibt. Und damit jeder weiß, wer gemeint ist, werden sie vom Verfassungsschutz öffentlich zum „Verdachtsfall“ erklärt – was auch immer darunter zu verstehen sein mag.

Und was hat die Kanzlerin zu alledem gesagt? „Es war ein Tag, der mit den Werten und Überzeugungen der CDU gebrochen hat. Es muß jetzt alles getan werden, damit jetzt deutlich gemacht wird, daß dies in keiner Weise mit dem, was die CDU denkt und tut, in Übereinstimmung gebracht werden kann. Daran wird in den nächsten Tagen zu arbeiten sein.“ Personalwechsel beim Verfassungsschutz? Mitnichten. Personalwechsel beim Regierungschef.

Kemmerichs Familie wurde zur Zielscheibe

Die Kanzlerin griff zum Telefonhörer und bat Herrn Lindner von der FDP, Kemmerich zum sofortigen Rücktritt zu bewegen. Okay, antwortete der FDP-Chef, er wird’s ausrichten. Und dann tat er einen Ausspruch, wie er in keinem Drama fehlen darf. Er sagte nicht: „Rechtsstaat und Demokratie sind für mich nicht verhandelbar, Frau Merkel“. Er sagte auch nicht: „Sire, geben sie Gedankenfreiheit.“ Er sagte: Die CDU müsse Mitverantwortung übernehmen, falls es zu einer exekutiven Notlage in Erfurt komme. Wahnsinnig vorausschauend! Weitsichtig! Einfach geistesgegenwärtig!

Die Dinge waren allerdings schon vorher ein klein wenig aus dem Ruder gelaufen. Ministerpräsident Kemmerich, seine Familie und sein Haus standen rund um die Uhr unter Polizeischutz, seine Ehefrau wurde auf offener Straße angespuckt, und als der Sohnemann morgens in die Schule kam, prangte es in dicken Lettern über dem Portal: „Kemmerich – jämmerlich.“ Anschaulicher kann man der Jugend kaum klarmachen, wie wahre Demokratie funktioniert.

Das Ende ist bekannt: Am 8. Februar 2020 trat Kemmerich nach drei Tagen im Amt zurück, und schwupp die wupp hieß der neue (alte) Ministerpräsident Bodo Ramelow. Dieses Mal mit den richtigen Stimmen! Der Björn von der Alternative hatte dem Bodo im Landtag keinen Blumenstrauß vor die Füße geworfen, allerdings versuchte er, zu gratulieren. Der Bodo aber verweigerte den Handschlag und begründete dies wie folgt: „Erst wenn ich deutlich vernehmen kann, daß die Demokratie im Vordergrund steht, dann bin ich bereit, auch Ihnen, Herr Höcke, die Hand zu geben; aber erst dann, wenn Sie die Demokratie verteidigen und nicht die Demokratie mit Füßen treten.“ Wie heißt es in der Bibel (Mt 7,3): „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?“

Die Thüringer sind den Mächtigen nicht geheuer

Als das Politdrama seinem Höhepunkt noch entgegenstrebte, war die Zauberformel für die Zukunft schon gefunden: Neuwahl des Thüringer Landtags. So polterte auch CSU-Chef Söder aus München: „Das beste und ehrlichste wären klare Neuwahlen.“ Daß Politiker auf ehrliche Weise einzig unser Bestes wollen – geschenkt. Aber habt ihr gehört, liebe Thüringer: „Klare“ Neuwahlen! Wählen, bis das Ergebnis stimmt, das kennen wir doch aus Europa. Thüringen kann und darf da nicht zurückstehen.

Und als die Rot-Rot-Grünen wieder an der Macht waren, sind Neuwahlen auch versprochen worden. Nicht gleich, aber ganz bestimmt im nächsten Jahr. Irgendwann hat man allerdings kalte Füße bekommen. Die Thüringer, die sich da um ihren Kyffhäuser scharen, sind bei Lichte besehen doch ein unberechenbares Völkchen. Ach, eigentlich tut’s auch eine Minderheitsregierung. Als vergangenes Jahr versucht wurde, Neuwahlen doch noch durch ein konstruktives Mißtrauensvotum zu erzwingen, ist die damalige Kanzlerin Merkel allen CDU-Abgeordneten in der Nacht vor der entscheidenden Landtagssitzung im Traum erschienen. Sie soll nur ein Wort gesagt haben: „Sitzenbleiben!“

Man kann immer was lernen

So kam es, daß kein Abgeordneter der CDU sich vom Platz erhob, um geheim über das Mißtrauensvotum abzustimmen. Die Versuchungen des freien Mandats – für dieses Mal blieben sie ihnen erspart. Berthold Brecht hätte Rat gewußt: Die Thüringer haben das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?

Der englische Historiker Liddell Hart veröffentlichte im Jahre 1944 einen Essay mit dem Titel: „Warum lernen wir denn nicht aus der Geschichte?“ Die Pflicht des guten Bürgers sei – so führte er darin aus –, wie ein wachsamer Hund darauf zu achten, daß die Regierung nicht die grundlegenden Zwecke beeinträchtigt, denen zu dienen ihr Daseinszweck ist. Es ist niemals zu spät, aus der Geschichte zu lernen, aus schlechten Tagen für die Demokratie.

Nach der Wahl Thomas Kemmerichs (FDP) (l.) warf die Linken-Politikerin Susanne Hennig-Wellsow ihm die Blumen vor die Füße Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Martin Schutt
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