Hunderte Faschisten aus Oberitalien marschieren in Südtirols Landeshauptstadt Bozen ein und besetzen die größte und modernste Schule der Stadt, verwehren den 500 deutschen Schülern den Zutritt und fordern die Absetzung des gewählten deutschsprachigen Bürgermeisters und Gemeinderats. Als diese ablehnen, stürmen die Milizen das Rathaus, hissen die Tricolore und verkünden: „Es gibt nur ein Gesetz – und das heißt Italien!“
Nein, dieser einschneidende „Marsch auf Bozen“ fand nicht als Folge des Siegs der Fratelli d’Italia (FdI) bei der italienischen Parlamentswahl am Sonntag statt, sondern vor genau 100 Jahren. Unter Historikern gilt diese gewaltsame und widerrechtliche Aktion übrigens als Generalprobe für den „Marsch auf Rom“, der wenige Wochen später im Oktober 1922 die Machtübernahme Mussolinis einleitete. Dennoch werden auch jetzt nach dem fast schon dominierenden Wahlerfolg der „Brüder Italiens“ Warnungen vor italienischen Faschisten laut.
Gudrun Kofler wurde am Sonntag, also am selben Tag wie der italienischen Parlamentswahl, für die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) in den Tiroler Landtag gewählt. Die 39jährige gebürtige Südtirolerin hat eine klare Meinung von der FdI-Parteichefin und designierten neuen Ministerpräsidentin Italiens, Giorgia Meloni.
Im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT mahnt sie: „Meloni will die ethnische Autonomie zugunsten einer Territorialautonomie abschaffen. Die deutsche und ladinische Volksgruppe wäre nicht mehr geschützt. Und das bedeutet auch: Die Schutzmachtfunktion Österreichs würde beendet. Damit greift sie auch in die österreichische Politik ein, weil Südtirol eben nicht nur eine inneritalienische Angelegenheit ist. Österreich hat die Schutzmachtfunktion für die österreichische Minderheit in Italien: für die Südtiroler.“
Faschisten versuchten, die Kultur Südtirols auszulöschen
Italien hatte nach dem Ersten Weltkrieg völkerrechtswidrig Südtirol annektiert. Nach der Machtergreifung der Faschisten versuchten diese, die Südtiroler mit allen Mitteln zu italienisieren, ihre Kultur auszulöschen. Doch der Beharrungswille der Tiroler südlich des Brenners war trotz des Leids und der Unterdrückung stärker. Nach dem Zweiten Weltkrieg flammte die Hoffnung auf, Tirol könnte wieder vereint werden. Doch diese Erwartung zerschellte jäh an der harten Betonmauer der nun offiziell demokratisierten italienischen Politik.
Die italienischen Regierungen traten die Rechte der Südtiroler mit Füßen, was zu Massenprotesten bis hin zu Sprengstoffanschlägen gegen die italienische Infrastruktur und faschistische Relikte führte, die auch von Österreichern und Deutschen unterstützt wurden. Die Südtirol-Frage kam schließlich vor die Uno. Erst 1992 wurde der Streit mit der Umsetzung des Zweiten Autonomiestatuts beigelegt. Es existieren ein Recht auf deutsche Muttersprache und ein ethnischer Proporz im öffentlichen Dienst und bei der Vergabe von Mitteln. Die Südtirol-Autonomie gilt als eine der weltweit besten und die unterschiedlichen Sprachgruppen leben inzwischen friedlich mit- und oft auch nebeneinander her.
Doch die mögliche neue Rechtsregierung in Rom könnte den alten Streit wieder akut werden lassen. Die Südtiroler Autonomie gilt Nationalisten und Zentralisten als Dorn im Auge. Und ausgerechnet die autonomiefreundliche und föderalistische Lega erlitt mit weniger als neun Prozent der Stimmen ebenso wie die Forza Italia eine herbe Wahlschlappe. Die Fratelli d’Italia wird in der neuen Koalition den Ton angeben. „Es gibt einige Leute in dieser Partei, die nun die Chance wittern, Südtirol zu italienisieren. Es geht um das Überleben der deutsch- und ladinischsprachigen Volksgruppe. Jedweden Italianisierungsversuchen muß man eindeutig den Riegel vorschieben“, fordert die zweifache Mutter Kofler.
Wie berechtigt sind ihre Sorgen? Blickt man auf die Politik der Fratelli d‘Italia aus den vergangenen Jahren, kommt man zu dem Schluß: sehr. Eine Auswahl an Äußerungen und Forderungen:
- Ein FdI-Politiker wollte das Hissen der Tiroler Fahne untersagen (dies war auch zur Zeit des Faschismus verboten).
- Ein Abgeordneter echauffierte sich im Parlament ernsthaft über österreichische Polizisten, die am Brenner in Uniform einen Kaffee trinken oder eine Pizza essen.
- Derselbe Politiker forderte ein Gesetz, das alle Südtiroler Unternehmen verpflichtet, die faschistisch geprägten Ortsnamen zu verwenden.
- Mehrere Parlamentarier wollten die im Südtiroler Landtag vertretene Partei Süd-Tiroler Freiheit verbieten lassen.
- Die FdI sprach sich gegen die Niederlassung rein deutschsprachiger Ärzte in Südtirol aus.
- Als es wegen der autoritären Corona-Maßnahmen zu Protesten mit „Los von Rom“-Feuern in Südtirol kam, forderte ein FdI-Politiker sofortige und harte Maßnahmen dagegen.
- Parteichefin Meloni legte Südtirolern, die ein Problem mit Italien hätten, die Auswanderung nahe: „Wenn sich die Südtiroler nicht als Italiener fühlen wollen, sollen sie nach Österreich auswandern, wenn ihnen die italienische Trikolore nicht paßt, dann brauchen sie auch nicht die Milliarden an Euro, mit denen der italienische Staat die Autonomie finanziert.“
- Die FdI forderte die Auslieferung der im Exil lebenden Freiheitskämpfer, der „Puschtra Buibm“, die die Partei als „Terroristen“ bezeichnet.
Fratelli-d’Italia-Politiker sagen nun kreidefressend, sie würden sich auch für Südtirol und dessen Autonomie einsetzen.
Hier zu sehen: Meloni, wie sie 2015 Blumen am faschistischen „Siegesdenkmal“ in Bozen niederlegt, auf dem die Deutschen und Ladiner herabgewürdigt werden. pic.twitter.com/97hHCOmbPK— Lukas Steinwandter (@LSteinwandter) September 28, 2022
Meloni punktet als Pragmatikerin
Allerdings gibt es auch Argumente, die gegen einen bevorstehenden Frontalangriff auf Südtirols Autonomie sprechen. Zuallererst wäre da Meloni selbst. Die Parteichefin hat sich in der jüngeren Vergangenheit als Pragmatikerin, als „Realo“, bewiesen. Vor der Wahl setzte sie erfahrene, klassisch konservative Politik-Urgesteine auf die FdI-Liste, wohlwissend, daß sie in den eigenen Reihen zu wenig kompetente Leute findet, mit denen sie die vielen neuen Posten besetzen und die riesigen Herausforderungen – Energie- und Wirtschaftskrise, Migrationsströme, Inflation – meistern kann, vor denen Italien steht. Zu nennen wären etwa der Wirtschaftsphilosoph und frühere Senatspräsident Marcello Pera, der frühere Außenminister Giulio Terzi di Sant’Agata oder der mehrfache Finanz- und Wirtschaftsminister Giulio Tremonti.
Am Wahlabend machte Meloni nicht mit triumphalen Gesten auf sich aufmerksam, sondern bedankte sich bei Lega und Forza Italia. Umgekehrt hatte die Lega in mehreren Regionen FdI-Vertretern den Posten des Ministerpräsidenten überlassen. „Die Marginalisierung von Forza Italia und Lega und das Übergewicht der Nationalkonservativen (Lega, Anm.) sind eine Hypothek für das Lager“, bewertete der Publizist Marco Gallina die Situation. Melonis Pragmatismus nährt die Hoffnung, die Zentralisierungsforderungen ihrer Partei könnten nicht derart radikal in die Tat umgesetzt werden.
Der Chef der Süd-Tiroler Freiheit, Sven Knoll, setzt jedoch nicht darauf. Er befürchtet im Gespräch mit der JF, Meloni müsse aufgrund des enormen Stimmenzuwachses auch knallharte Parteiideologen auf relevanten Posten einsetzen. Da wäre etwa Alessandro Urzì, der nun für die Fratelli ins Parlament einzieht. „Schon sein Vater war Regierungskommissar in Bozen und hat Südtirol immer wieder Schwierigkeiten bereitet. Dieser Urzì wird nun der Berater der Regierung in allen Südtirol-Fragen werden, er kennt die Abläufe in den Ministerien und weiß daher ganz genau, wie er der Autonomie Schaden zufügen kann. Das Ziel von Meloni und ihren faschistischen Brüdern Italiens ist es, Süd-Tirol zu einer normalen italienischen Provinz zu machen.“
Söder gibt sich als Verteidiger der Autonomie Südtirols
Urzì sagte dem Gesamttiroler Nachrichtenportal UnserTirol24, für einen Posten etwa als Regionenminister sei er derzeit nicht im Gespräch. Er werde aber „für Südtirol arbeiten“. In seiner Zeit als Landtagsabgeordneter in Bozen war er immer wieder mit autonomiefeindlichen Äußerungen aufgefallen und hatte sich etwa für den Erhalt faschistischer Relikte in Südtirol ausgesprochen.
Angesichts dieser Bedrohung für die deutsche und ladinische Volksgruppe in Südtirol könnten sich auch Patrioten in der Bundesrepublik Deutschland kaum über den Wahlsieg Melonis freuen, betont Knoll. In der Südtiroler Rechten hat man indes genau registriert, wer sich in Deutschland wie geäußert hat. So war es ausgerechnet CSU-Chef Markus Söder, der nach der italienischen Parlamentswahl ankündigte, sich „künftig mehr um das Wohl der Menschen in Südtirol kümmern“ zu wollen. Dort sei „die Besorgnis nach dem Wahlabend sehr, sehr groß“.
Doch wie nachhaltig die Autonomie attackiert werden kann, liegt auch an ihrer theoretisch wichtigsten Verteidigerin: der Südtiroler Volkspartei (SVP). Theoretisch deshalb, weil sich die SVP in den vergangenen Jahren nicht unbedingt als konsequente Minderheitenpartei und Beschützerin der Autonomie hervorgetan hat.
Furcht vor dem Faschismus ist zurück
Die SVP errang fünf von sechs Südtiroler Mandaten in beiden Parlamentskammern, ein weiteres eroberte der Partito Democratico in Südtirol. Auf die Funktion der Südtiroler Vertreter in Rom weist der Chef der Südtiroler Freiheitlichen, Andreas Leiter Reber, gegenüber der JF hin: „Die Senatoren und Kammerabgeordneten aus Südtirol sollen blockfrei bleiben und sich nicht von einer wie auch immer gearteten Regierung vereinnahmen lassen, aber auch nicht von ihr distanzieren. Ihre einzige, aber dafür sehr verantwortungsvolle Aufgabe ist die Wahrung und Vertretung der Südtiroler Interessen: Angefangen beim Minderheitenschutz über die Verteidigung der derzeitigen Teil-Autonomie bis hin zum weiteren Ausbau der Selbstverwaltung.“
Wenige Tage vor der Wahl hatte der SVP-Parteivorsitzende Philipp Achammer angekündigt: „Wir werden unsere Autonomie auf Punkt und Beistrich verteidigen!“ Aus SVP-Kreisen ist zu hören, ihre Abgeordneten würden in der neuen Legislaturperiode im Gegensatz zur jüngeren Vergangenheit blockfrei bleiben, sich also keinem Lager anschließen.
Selbst wenn aber die SVP sich ihrer Wurzeln bekennt und die Südtiroler im Falle römischer Attacken zusammenhalten, gilt es zu konstatieren: Südtirol ist eine kleine Provinz mit wenigen hunderttausend Einwohnern, wenn Rom ernst macht, wird es brenzlig. Ohne die Hilfe der nördlichen Nachbarn geht es nicht. Die Furcht vor dem Faschismus in Südtirol ist zurück. Das sei den Patrioten aller Parteien und Länder ins Gewissen geschrieben: Vergeßt Südtirol nicht.