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Das Individuum in der Krise: Völlig vernetzte Einsamkeit

Das Individuum in der Krise: Völlig vernetzte Einsamkeit

Das Individuum in der Krise: Völlig vernetzte Einsamkeit

Die Generation der Digital Natives vereinsamt (Symbolbild) Foto: picture alliance / dpa Themendienst | Christin Klose
Die Generation der Digital Natives vereinsamt (Symbolbild) Foto: picture alliance / dpa Themendienst | Christin Klose
Die Generation der Digital Natives vereinsamt (Symbolbild) Foto: picture alliance / dpa Themendienst | Christin Klose
Das Individuum in der Krise
 

Völlig vernetzte Einsamkeit

In der Corona-Pandemie verlagern sich Kontakte notgedrungen mehr und mehr in die sozialen Medien. Doch statt des Austauschs regiert dort ein unbarmherziger Kollektivismus. Auch im vermeintlich sicheren Rudel kann die Stimmung schnell umschlagen. Ein Kommentar von Boris T. Kaiser.
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Die junge CDU-Politikerin Diana Kinnert hat ein Buch über die Gleichförmigkeit und emotionale Verkümmerung in der Zeit der sozialen Netzwerke geschrieben. „Die neue Einsamkeit: Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können“ lautet der Titel des Werks, in dem sie von der Angst vor dem Anderssein in der jungen Generation erzählt.

Vor sechs Jahren hatte sich die heute 30Jährige, die einst als die junge Hoffnung ihrer Partei galt, zum ersten Mal intensiv mit der gesellschaftlichen Problematik der Vereinsamung beschäftigt. Damals ging es allerdings noch um Hunderttausende britischer Senioren, die seltener als einmal im Monat Kontakt zu Familie oder Freunden haben.

Kinnert hat das Thema bis heute nicht mehr losgelassen. Sie weiß: Die derzeitige Krise hat das Problem noch einmal deutlich verschärft. Die Corona-Maßnahmen, vor allem die staatlich verordneten Kontaktbeschränkungen, haben die letzten Monate für viele zur einsamsten und emotional belastendsten Zeit ihres Lebens werden lassen.

Lockdown bedeutet völlige Isolation

Unzählige fühlen sich in der Krise zurückgelassen. Nicht wenige sind es auch. „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben“, heißt es in Rilkes „Herbsttag“. Man könnte aus heutiger Sicht ergänzen: Wer vor Corona schon viel alleine war, für den wird der Lockdown nicht selten die völlige Isolation bedeuten.

Die Hauptbetroffenen seien hier allerdings gar nicht – wie häufig angenommen – die Alten, glaubt Kinnert und kann diese Annahme mit Zahlen und Fakten untermauern. Vielmehr leide die Genration der Digital Natives unter den Kontaktbeschränkungen. Eine Generation, in der die Community und die eigene Bubble im Zweifel mehr zählen als der Einzelne. Es sei denn, es handelt sich bei diesem Einzelnen um einen selbst.

„Unserer Generation wird eingetrichtert: Anpassung ist Hoheitstugend“, sagte die Publizistin im Interview mit der Welt. Nur einer von zahlreichen Sätzen mit dem sie es schafft, die emotionale Miesere vieler junger Menschen auf den Punkt zu bringen. Junge Menschen, die zwar ständig vernetzt sind, aber keine wirklichen Beziehungen mehr aufbauen können oder wollen.

„Konfrontation ist anstrengend“

Die Autorin gehört mit ihren 30 Lebensjahren einer Art Zwischengeneration an. Sie dürfte die Zeit vor der totalen Digitalisierung des Privat- und Berufslebens vielleicht nicht völlig bewußt miterlebt, aber doch zumindest noch ansatzweise mitbekommen haben. Das merkt man ihrem analytischen Blick auf die Gegenwart an.

„Wenn mich ein Chat nervt, springe ich in einen anderen. Wenn mir auf Twitter eine unangenehme Meinung begegnet, schalte ich sie stumm, blockiere den Gesprächspartner. Ich inszeniere eine Filterblase der Reibungsvermeidung, Konfrontation ist anstrengend, aber ohne Abrieb keine Wärme, ohne Konfrontation keine Intimität. Kontakt wird opportun.“ Die Beschreibungen Kinnerts könnten treffender nicht sein.

Auch weil sie erkennt: „Das bleibt nicht nur im Digitalen; es übersetzt sich ins Analoge. Man verabredet sich, hält sich bis zur letzten Minute aber Alternativen offen. Eine Multioptionsattitüde, eine soziale Gratismentalität, ein Widersinn von Wertschätzung. Man sitzt zusammen, aber sieht sich nicht an. Dienstliche E-Mails beantworten, Filter einstellen bei Instagram-Storys, in Direct Messages sliden. Die totale Vernetzung macht unsichtbar, das Gegenüber weicht auf. Die Folge ist Beliebigkeit, Willkür und Oberflächlichkeit, eine gestörte Bindungswelt.“

Das Leben in der Blase ist gefährlich

Wo das Gegenüber als Individuum nichts mehr zählt, da wird die Gruppe zum allentscheidenden Korrektiv. Im Zeitalter des kollektiven Ichs spielen die tatsächlichen Motive des Gegenübers keine Rolle. Auch nicht, wie viel man selbst ihm vielleicht schon angetan oder zugemutet hat. Es zählt nur: Wie empfinde ich; und vielleicht noch wichtiger: meine Gruppe.

Wie viel Erleichterung würde es MIR verschaffen, den menschlich-emotionalen Ballast abzuwerfen? Was würde es für MICH und MEIN Verhältnis zur Gemeinschaft bedeuten, wenn ich den in der Gunst gefallenen „Auszustoßenden“ nicht schleunigst abstoße wie ein „toxisches“ Wertpapier? Memes, Spruchtafeln und kurze Videoclips sagen einem, was einem alles das Recht gibt, einen Mitmenschen ohne Aussicht auf Revision zu verurteilen und in die (nicht nur digitale) Verbannung zu schicken.

So kann man jederzeit ohne schlechtes Gewissen die emotionale Löschtaste drücken, wenn der andere einfach nicht mehr zum eigenen „Profil“ paßt. Das Leben in der eigenen Blase ist ein Leben unter kannibalischen Wölfen. Ein kleines Ausscheren, ein minimaler Fehler, eine kurze Unaufmerksamkeit beim Gefallenwollen und das eigene „Rudel“ wird erbarmungslos über dich herfallen. Diese Gewißheit hat sich tief eingebrannt in das Bewußtsein einer Generation, die nie eine andere Form von Gesellschaft kennengelernt hat.

Mehr soziale Selektion war selten

Kinnert sagt: „Mein Eindruck ist, daß sich die Jungen verstärkt einem neuen Kollektivismus zuwenden. Sie sammeln sich vor allem in linken Streitkollektiven. Dabei geht es oft nicht darum, politische Argumente zu diskutieren, sondern darum, gesehen und akzeptiert zu werden. Es geht um soziale und kulturelle Zugehörigkeit und Anerkennung. Diese Form von Kollektivismus aber sabotiert letzten Endes demokratische Streitkultur“.

Mehr soziale Selektion war selten. Spaltung, Kontaktschuld und sozialer Druck konnten auf diese Weise – auch und gerade in der Corona-Krise – perfektioniert werden. Liebe, Solidarität und Toleranz sind zur reinen Performance verkommen, die man im Kollektiv demonstrativ nach außen trägt, ohne sie persönlich im Privaten jemals konkret gelebt zu haben. Wer in der digitalen Realität bewiesen hat, daß er zu den Guten gehört, muß im „Real Life“ nichts Gutes mehr tun.

So bedeutet zwischenmenschliches Beisammensein heute vor allem das Aufgehen des Einzelnen in einem großen, nur scheinbar solidarischen „Wir“. Einem „Wir“ voller egoistischer, für die Besonderheiten und Schwächen des Anderen wenig Verständnis aufbringenden Ichs. Wenn ich erst einmal in der Lage bin, einen gerade noch „geliebten“ Menschen mit ein paar Klicks aus meinem Leben zu entfernen, dann kann eben schon ein kurzer Augenblick darüber entscheiden, ob ich geherzt oder geblockt werde.

Die Generation der Digital Natives vereinsamt (Symbolbild) Foto: picture alliance / dpa Themendienst | Christin Klose
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