Welcher Schüler kennt es nicht: Am ersten Tag des neuen Schuljahrs findet das größte Hauen und Stechen des ganzen Jahres statt. Vor der Tür herrscht Gedränge, dann stürmen alle ins Klassenzimmer, um sich den besten Platz zu sichern. X möchte nicht neben Y sitzen, den er „total doof“ findet. Und Z will auf keinen Fall in die erste Reihe.
Wer sich am Donnerstag nachmittag ins Parlamentsfernsehen des Deutschen Bundestags einklickte, fühlte sich womöglich an diese Zeiten zurückerinnert. Denn auf der Tagesordnung stand die Beratung über einen Antrag zur „Sitzordnung im Plenarsaal des Bundestags“. Eingebracht hatten ihn SPD, Grünen und FDP.
Schon seit Jahren macht die FDP deutlich, daß sie nicht neben den blöden, müffelnden Außenseitern von der AfD sitzen will. Nun, da die neue Ampel-Koalition steht, ergab sich die Möglichkeit, dies auch durchzusetzen.
So voll ist der Plenarsaal selten
Da damit aber automatisch CDU und CSU in der Plenumsgeographie weiter „nach rechts“ rücken und vor allem neben dem unbeliebtesten Schüler der Klasse, eben der AfD, sitzen müssten, beantragten die Unionsparteien eine Aussprache. Eine ganze halbe Stunde Zeit nahmen sich die Abgeordneten dann dafür.
Und was soll man sagen: So voll hat man den Plenarsaal nur selten gesehen, allenfalls bei den ganz großen Debatten, zu den Regierungserklärungen des Kanzlers etwa. Die Union hatte beinahe ihre ganze Mannesstärke aufgeboten, bis in die letzte Reihe war die Fraktion am Ende gefüllt. Als die SPD bemerkte, daß damit die Mehrheit für die Sitzplanänderung wankte, rief sie – so zumindest wirkte es – ebenfalls ihr Abgeordneten ins Plenum, die schließlich auch zahlreich herbeiströmten.
Plötzlich ist Schluss mit lustig
Die Aussprache verlief dann ungewohnt emotional. Von der „bis jetzt besten Debatte, die wir in dieser Legislaturperiode hier hatten“, sprach Linken-Redner Jan Korte später. Hatte Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) die Ampelparteien am Mittwoch teilweise noch mit Wattebäuschchen beworfen und ihren Ministern gar liebenswürdig zum nächsten Karriereschritt gratuliert, war nun Schluß mit lustig.
Ein „Ausdruck von Respektlosigkeit“ sei die Sitzplatzänderung, polterte CDU-Redner Thorsten Frei, „ein Zeichen der Kleinkariertheit“. Nach der Rede folgte langanhaltender Applaus. Die Sitzungsleitung hatte sichtbar Mühe, die „Begeisterung“ der Unionsfraktion für die Rede zu stoppen. Das sei doch „jetzt keine Kanzlerrede oder so“ mahnte die amtierende Präsidentin zur Ruhe.
Zuvor hatte sich schon die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irene Mihalic, Gelächter aus der Union anhören müssen, als sie es für „ein bißchen unglücklich“ erklärte, „daß wir jetzt hier diese Debatte in der Sache führen müssen“. Sie frage sich, „wie eine solche Debatte auf die Menschen in unserem Land wirkt“. Es folgte höhnischer Beifall von CDU und CSU.
Wie wirkt das?
Ja: Wie wirkt eine solche Debatte eigentlich „auf die Menschen in unserem Land“? Wie wirkt es, daß die Emotionen bei einer solchen Nebensächlichkeit hochkochen, während in inhaltlichen Fragen allzu oft Beliebigkeit oder prinzipielle Einigkeit regiert? Wie wirkt es, daß sich die FDP hier derart ins Zeug legt, sich in den Sozialen Medien für ihren Erfolg abfeiert, während sie in der Coronapolitik einfach so eine Position nach der anderen abräumt, ganz ohne Emotionen und Leidenschaft?
Und wie wirkt es, daß an dieser Debatte so viele Abgeordnete teilhaben, während in der anschließenden Aktuellen Stunde über Verdienstausfälle wegen der Coronamaßnahmen wieder gähnende Leere im Plenum herrscht? Wie wirkt das?
Man mag diese Fragen für oberflächlich halten und meinen, daß sie die Realitäten des parlamentarischen Prozederes aus den Augen verlieren, daß sie unnötig skandalisieren, weil doch auch Fragen der Symbolik irgendwo zum Politklamauk dazugehören und mit ihnen eben auch Politik gemacht wird. Wenn AfD-Mann Stephan Brandner von „Kasperletheater“ spricht, wird sich sicher auch jemand finden, der ihm deswegen eine Verächtlichmachung des Parlamentarismus vorwirft.
Symptom eines tieferliegenden Problems
Doch das Parlament muß aufpassen, daß es sich nicht selbst verächtlich und beim Bürger unmöglich macht. Die Debatte am Donnerstag war ein Symptom für ein tieferliegendes Problem, das Problem der Infantilisierung des Bundestages. Dazu gehört etwa auch, daß der AfD seit vier Jahren der Posten des Vizepräsidenten und seit neuestem – gerade einen Tag zuvor – auch die Ausschußvorsitze versagt werden.
Der Bundestag sollte weder eine Grundschulklasse, noch ein Kindergarten sein, doch bisweilen ist er genau das. Den Parlamentariern stünde es gut zu Gesicht, wenn sie einmal in sich gehen und über ihre Prioritätensetzung nachdenken.